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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Mutakallimun: Substanz und Accidens.
2. Die punktuellen Substanzen.

Im engsten Zusammenhang mit der atomistischen Auf-
fassung von Raum und Zeit steht die Lehre der Mutakallimun
von der Substanz. Sie behaupten nämlich, daß die Substanz
niemals getrennt sein kann von ihren Accidentien, welche
stets in größerer Anzahl mit ihr verbunden sind. Und zwar
haften diese zahlreichen Zustände nicht am Ganzen des Körpers,
sondern an jedem einzelnen Atom. Jedes Atom ist unzer-
trennbar von vielfachen Zuständen, wie Farbe und Geruch,
Bewegung oder Ruhe; nur die Größe ist ausgenommen, sie ist
kein Zustand und kommt nicht den Atomen, sondern nur dem
Körper zu. Aber die Weiße des Schnees, die Bewegung des
Körpers etc. existieren nur deshalb, weil jedes der Atome
weiß oder bewegt ist.

Gleiches gilt von dem Leben, der Empfindung, dem Denken
und Wissen; jedes Atom besitzt Leben und Empfindung, denn diese
alle sind nur Zustände wie Weiße oder Schwärze. Über die
Seele sind die Meinungen jedoch insofern geteilt, als einige
glauben, daß die Beseeltheit lediglich ein Accidens eines einzigen
von den Atomen ist, aus welchen der Mensch besteht, andre
dagegen annehmen, daß die Seele ein aus feinen, mit einem
besonderen Zustande behafteten Atomen bestehender Körper ist,
dessen Atome sich unter die Körperatome mischen. Jedenfalls
gilt ihnen Beseeltheit ebenso wie Denken und Wissen als bloßes
Accidens; das Denken schreiben sie nur einem einzigen Atome
zu, über das Wissen schwanken ihre Ansichten wie bei der
Beseeltheit, ob es allen oder einem Atome allein zukomme.

Gegen ihre Behauptung, daß die Zustände nicht dem
Körper als Ganzem, sondern den einzelnen Atomen angehören,
wird eingewendet, daß Körper von lebhafter Farbe, in Pulver-
form gebracht, dieselbe verlieren; sie verteidigen sich damit,
daß sie sagen, die Zustände haben keine Dauer, sondern werden
fortwährend neu erschaffen. Damit kommen sie auf die wichtigste
Konsequenz ihres Atomismus. Indem Gott das Atom, die einfache
Substanz schafft, schafft er, so meinen sie, zugleich in ihr jeden
Zustand, den er will; keine Substanz mit den untrennbar ver-
bundenen Zuständen aber kann länger dauern als einen ein-
zigen Augenblick. Sie verschwindet, sobald sie geschaffen ist,

Mutakallimun: Substanz und Accidens.
2. Die punktuellen Substanzen.

Im engsten Zusammenhang mit der atomistischen Auf-
fassung von Raum und Zeit steht die Lehre der Mutakallimun
von der Substanz. Sie behaupten nämlich, daß die Substanz
niemals getrennt sein kann von ihren Accidentien, welche
stets in größerer Anzahl mit ihr verbunden sind. Und zwar
haften diese zahlreichen Zustände nicht am Ganzen des Körpers,
sondern an jedem einzelnen Atom. Jedes Atom ist unzer-
trennbar von vielfachen Zuständen, wie Farbe und Geruch,
Bewegung oder Ruhe; nur die Größe ist ausgenommen, sie ist
kein Zustand und kommt nicht den Atomen, sondern nur dem
Körper zu. Aber die Weiße des Schnees, die Bewegung des
Körpers etc. existieren nur deshalb, weil jedes der Atome
weiß oder bewegt ist.

Gleiches gilt von dem Leben, der Empfindung, dem Denken
und Wissen; jedes Atom besitzt Leben und Empfindung, denn diese
alle sind nur Zustände wie Weiße oder Schwärze. Über die
Seele sind die Meinungen jedoch insofern geteilt, als einige
glauben, daß die Beseeltheit lediglich ein Accidens eines einzigen
von den Atomen ist, aus welchen der Mensch besteht, andre
dagegen annehmen, daß die Seele ein aus feinen, mit einem
besonderen Zustande behafteten Atomen bestehender Körper ist,
dessen Atome sich unter die Körperatome mischen. Jedenfalls
gilt ihnen Beseeltheit ebenso wie Denken und Wissen als bloßes
Accidens; das Denken schreiben sie nur einem einzigen Atome
zu, über das Wissen schwanken ihre Ansichten wie bei der
Beseeltheit, ob es allen oder einem Atome allein zukomme.

Gegen ihre Behauptung, daß die Zustände nicht dem
Körper als Ganzem, sondern den einzelnen Atomen angehören,
wird eingewendet, daß Körper von lebhafter Farbe, in Pulver-
form gebracht, dieselbe verlieren; sie verteidigen sich damit,
daß sie sagen, die Zustände haben keine Dauer, sondern werden
fortwährend neu erschaffen. Damit kommen sie auf die wichtigste
Konsequenz ihres Atomismus. Indem Gott das Atom, die einfache
Substanz schafft, schafft er, so meinen sie, zugleich in ihr jeden
Zustand, den er will; keine Substanz mit den untrennbar ver-
bundenen Zuständen aber kann länger dauern als einen ein-
zigen Augenblick. Sie verschwindet, sobald sie geschaffen ist,

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[141/0159] Mutakallimun: Substanz und Accidens. 2. Die punktuellen Substanzen. Im engsten Zusammenhang mit der atomistischen Auf- fassung von Raum und Zeit steht die Lehre der Mutakallimun von der Substanz. Sie behaupten nämlich, daß die Substanz niemals getrennt sein kann von ihren Accidentien, welche stets in größerer Anzahl mit ihr verbunden sind. Und zwar haften diese zahlreichen Zustände nicht am Ganzen des Körpers, sondern an jedem einzelnen Atom. Jedes Atom ist unzer- trennbar von vielfachen Zuständen, wie Farbe und Geruch, Bewegung oder Ruhe; nur die Größe ist ausgenommen, sie ist kein Zustand und kommt nicht den Atomen, sondern nur dem Körper zu. Aber die Weiße des Schnees, die Bewegung des Körpers etc. existieren nur deshalb, weil jedes der Atome weiß oder bewegt ist. Gleiches gilt von dem Leben, der Empfindung, dem Denken und Wissen; jedes Atom besitzt Leben und Empfindung, denn diese alle sind nur Zustände wie Weiße oder Schwärze. Über die Seele sind die Meinungen jedoch insofern geteilt, als einige glauben, daß die Beseeltheit lediglich ein Accidens eines einzigen von den Atomen ist, aus welchen der Mensch besteht, andre dagegen annehmen, daß die Seele ein aus feinen, mit einem besonderen Zustande behafteten Atomen bestehender Körper ist, dessen Atome sich unter die Körperatome mischen. Jedenfalls gilt ihnen Beseeltheit ebenso wie Denken und Wissen als bloßes Accidens; das Denken schreiben sie nur einem einzigen Atome zu, über das Wissen schwanken ihre Ansichten wie bei der Beseeltheit, ob es allen oder einem Atome allein zukomme. Gegen ihre Behauptung, daß die Zustände nicht dem Körper als Ganzem, sondern den einzelnen Atomen angehören, wird eingewendet, daß Körper von lebhafter Farbe, in Pulver- form gebracht, dieselbe verlieren; sie verteidigen sich damit, daß sie sagen, die Zustände haben keine Dauer, sondern werden fortwährend neu erschaffen. Damit kommen sie auf die wichtigste Konsequenz ihres Atomismus. Indem Gott das Atom, die einfache Substanz schafft, schafft er, so meinen sie, zugleich in ihr jeden Zustand, den er will; keine Substanz mit den untrennbar ver- bundenen Zuständen aber kann länger dauern als einen ein- zigen Augenblick. Sie verschwindet, sobald sie geschaffen ist,

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/159>, abgerufen am 25.11.2024.