Den Mutakallimun eigentümlich ist nun die weitere Wen- dung, welche ihre Atomistik nimmt, indem sie das, was für den Raum gelten soll, auch auf die Zeit übertragen. Die Zeit besteht nach ihnen aus einzelnen, diskontinuierlichen Zeit- momenten, welche ihrer kurzen Dauer wegen unteilbar sind. Wie die Stunde in sechzig Minuten, die Minute in sechzig Sekunden, die Sekunde in sechzig Tertien zerfällt, so gehen sie (sagt Maimonides) in der Teilung weiter und gelangen endlich zu "Decimen" oder noch kleineren Zeitteilen, welche keine weitere Teilung zulassen sollen, so daß die Zeit eine aus der Ordnung von Momenten bestehende Realität wird. Indem sie die Zeit definieren als die Koexistenz einer beliebigen Er- scheinung mit einer andren bekannten Erscheinung,1 kann dieselbe nur aus solchen Zeitmomenten bestehen, nur eine Reihe von lauter einzelnen "Jetzt" sein, und sie beweisen damit zugleich die Endlichkeit der Zeit, da sie vor Beginn der Welt, als es nichts zu bestimmen gab, auch nicht existieren konnte.
Aus der Diskontinuität der Zeit folgt weiter auch die Dis- kontinuität der Bewegung. Die Bewegung besteht in der Übertragung jedes der bewegten Atome von einem Raumatome zum benachbarten, so daß die Atome des bewegten Körpers gewissermaßen ruckweise die einzelnen Atome ihres Weges, von einem zum andern schnellend, durchlaufen. Es gibt daher keinen Unterschied in den Geschwindigkeiten der Bewegungen, sondern wenn eine Bewegung langsamer erscheint als eine andre, so beruht dies nur darauf, daß die Ruhepausen bei der ersteren größer sind als bei der letzteren. Der Sinn dieser Ausführungen ist also der, daß der bewegte Körper von Raumpunkt zu Raumpunkt springt, zwischen diesen Sprüngen aber größere oder kleinere Intervalle der Ruhe eintreten, wodurch ein Geschwindigkeitsunterschied im Gesamterfolge sich zeigt. Den Einwänden gegen diese Vor- stellung begegnen die Mutakallimun im allgemeinen durch Berufung auf die mangelhafte Wahrnehmungsfähigkeit unsrer Sinne.2
1Schmölders, Essai sur les ecoles philos. etc. p. 165.
2 Näheres darüber weiter unten, S. 148 ff. Vgl. auch S. 146 u. 152.
Mutakallimun: Zeit. Bewegung.
Den Mutakallimun eigentümlich ist nun die weitere Wen- dung, welche ihre Atomistik nimmt, indem sie das, was für den Raum gelten soll, auch auf die Zeit übertragen. Die Zeit besteht nach ihnen aus einzelnen, diskontinuierlichen Zeit- momenten, welche ihrer kurzen Dauer wegen unteilbar sind. Wie die Stunde in sechzig Minuten, die Minute in sechzig Sekunden, die Sekunde in sechzig Tertien zerfällt, so gehen sie (sagt Maimonides) in der Teilung weiter und gelangen endlich zu „Decimen‟ oder noch kleineren Zeitteilen, welche keine weitere Teilung zulassen sollen, so daß die Zeit eine aus der Ordnung von Momenten bestehende Realität wird. Indem sie die Zeit definieren als die Koexistenz einer beliebigen Er- scheinung mit einer andren bekannten Erscheinung,1 kann dieselbe nur aus solchen Zeitmomenten bestehen, nur eine Reihe von lauter einzelnen „Jetzt‟ sein, und sie beweisen damit zugleich die Endlichkeit der Zeit, da sie vor Beginn der Welt, als es nichts zu bestimmen gab, auch nicht existieren konnte.
Aus der Diskontinuität der Zeit folgt weiter auch die Dis- kontinuität der Bewegung. Die Bewegung besteht in der Übertragung jedes der bewegten Atome von einem Raumatome zum benachbarten, so daß die Atome des bewegten Körpers gewissermaßen ruckweise die einzelnen Atome ihres Weges, von einem zum andern schnellend, durchlaufen. Es gibt daher keinen Unterschied in den Geschwindigkeiten der Bewegungen, sondern wenn eine Bewegung langsamer erscheint als eine andre, so beruht dies nur darauf, daß die Ruhepausen bei der ersteren größer sind als bei der letzteren. Der Sinn dieser Ausführungen ist also der, daß der bewegte Körper von Raumpunkt zu Raumpunkt springt, zwischen diesen Sprüngen aber größere oder kleinere Intervalle der Ruhe eintreten, wodurch ein Geschwindigkeitsunterschied im Gesamterfolge sich zeigt. Den Einwänden gegen diese Vor- stellung begegnen die Mutakallimun im allgemeinen durch Berufung auf die mangelhafte Wahrnehmungsfähigkeit unsrer Sinne.2
1Schmölders, Essai sur les écoles philos. etc. p. 165.
2 Näheres darüber weiter unten, S. 148 ff. Vgl. auch S. 146 u. 152.
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Mutakallimun: Zeit. Bewegung.
Den Mutakallimun eigentümlich ist nun die weitere Wen-
dung, welche ihre Atomistik nimmt, indem sie das, was für
den Raum gelten soll, auch auf die Zeit übertragen. Die Zeit
besteht nach ihnen aus einzelnen, diskontinuierlichen Zeit-
momenten, welche ihrer kurzen Dauer wegen unteilbar sind.
Wie die Stunde in sechzig Minuten, die Minute in sechzig
Sekunden, die Sekunde in sechzig Tertien zerfällt, so gehen
sie (sagt Maimonides) in der Teilung weiter und gelangen endlich
zu „Decimen‟ oder noch kleineren Zeitteilen, welche keine
weitere Teilung zulassen sollen, so daß die Zeit eine aus der
Ordnung von Momenten bestehende Realität wird. Indem sie
die Zeit definieren als die Koexistenz einer beliebigen Er-
scheinung mit einer andren bekannten Erscheinung, 1 kann
dieselbe nur aus solchen Zeitmomenten bestehen, nur eine
Reihe von lauter einzelnen „Jetzt‟ sein, und sie beweisen
damit zugleich die Endlichkeit der Zeit, da sie vor Beginn der
Welt, als es nichts zu bestimmen gab, auch nicht existieren
konnte.
Aus der Diskontinuität der Zeit folgt weiter auch die Dis-
kontinuität der Bewegung. Die Bewegung besteht in der
Übertragung jedes der bewegten Atome von einem Raumatome
zum benachbarten, so daß die Atome des bewegten Körpers
gewissermaßen ruckweise die einzelnen Atome ihres Weges,
von einem zum andern schnellend, durchlaufen. Es gibt daher
keinen Unterschied in den Geschwindigkeiten der Bewegungen,
sondern wenn eine Bewegung langsamer erscheint als eine
andre, so beruht dies nur darauf, daß die Ruhepausen bei
der ersteren größer sind als bei der letzteren. Der Sinn
dieser Ausführungen ist also der, daß der bewegte
Körper von Raumpunkt zu Raumpunkt springt, zwischen
diesen Sprüngen aber größere oder kleinere Intervalle der
Ruhe eintreten, wodurch ein Geschwindigkeitsunterschied im
Gesamterfolge sich zeigt. Den Einwänden gegen diese Vor-
stellung begegnen die Mutakallimun im allgemeinen durch
Berufung auf die mangelhafte Wahrnehmungsfähigkeit unsrer
Sinne. 2
1 Schmölders, Essai sur les écoles philos. etc. p. 165.
2 Näheres darüber weiter unten, S. 148 ff. Vgl. auch S. 146 u. 152.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/158>, abgerufen am 25.11.2024.
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