Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Aristoteles gg. d. Atom.: Wahrnehmung.
wichtigsten Bedingung des Geschehens, infolge deren sie alles
auf die Notwendigkeit des Naturgeschehens zurückführe.
Aristoteles sucht den Grund dieser Irrtümer in dem erkenntnis-
theoretischen Prinzip des Demokrit, indem er ihm vorwirft,
die sinnliche Wahrnehmung mit dem Denken1 verwechselt und
daher alles Wahrgenommene auch für Wahrheit2 gehalten
zu haben.

Die Sinneswahrnehmung selbst werde von den Atomisten
falsch erklärt. Da nämlich alle Einwirkungen nach ihnen nur durch
die Berührung der Atome entstehen, so sehen sie sich genötigt,
auch die Sinnesempfindungen darauf zurückzuführen, und
erklären daher diese alle als Berührungen. Daraus aber folge,
daß alle Sinne nichts andres sind als der Tastsinn, was doch
offenbar unrichtig sei.3 Die Sinnesempfindung ist vielmehr
Aufnahme der sinnlichen Form ohne Stoff, wobei sich nur die
Wirkung des Körpers dem Wahrnehmenden mitteilt.4 Ebenso
falsch sei die Auffassung Demokrits von der Seele. Da die
Seele vor allem das Bewegende ist, so nahm er an, daß sie,
um bewegen zu können, selbst bewegt sein müsse. Deshalb
sagt er, die Seele sei Feuer und warm; denn ihrer Beweg-
lichkeit wegen müsse die Seele aus den leichtbeweglichsten
Atomen, den kugelförmigen, bestehen, welche auch das Feuer
bilden, sowie die sogenannten feinen Sonnenstäubchen (#),
welche in den durch die Fenster dringenden Strahlen erscheinen
und deren Allbesamung (#) er die Elemente der gesamten
Natur nenne. Diese kugelförmigen Atome bezeichne Demokrit
ebenso wie Leukipp deshalb als Seele, weil sie am besten in alles ein-
zudringen und alles in Bewegung zu setzen vermögen. Ihr Eintreten
und Wiederaustreten, wodurch das Gleichgewicht gegen den
Druck von außen und der gesamte Lebensprozeß sich erhalte,
werde durch das Ein- und Ausatmen bewirkt.5 Die Seelenatome
seien durch den ganzen Körper verbreitet und bewegen dadurch
den Körper. Wie aber soll dann die Ruhe erklärt werden?6

Die Seele ist vielmehr kein bestimmter Stoff, wie Demokrit
annahm, weil sie alsdann nicht in jedem empfindenden Körper

1 Metaph. IV, 5. 1009 b. 12.
2 De gen. et corr. I, 2. 315 b. 9.
3 De
sensu
c. 4. p. 442a. 29.
4 Zeller 3. A. II, 2. S. 535.
5 De anima I, 2.
403 b. 31--404a. 16.
6 De anima I, 3. 406 b. 22.

Aristoteles gg. d. Atom.: Wahrnehmung.
wichtigsten Bedingung des Geschehens, infolge deren sie alles
auf die Notwendigkeit des Naturgeschehens zurückführe.
Aristoteles sucht den Grund dieser Irrtümer in dem erkenntnis-
theoretischen Prinzip des Demokrit, indem er ihm vorwirft,
die sinnliche Wahrnehmung mit dem Denken1 verwechselt und
daher alles Wahrgenommene auch für Wahrheit2 gehalten
zu haben.

Die Sinneswahrnehmung selbst werde von den Atomisten
falsch erklärt. Da nämlich alle Einwirkungen nach ihnen nur durch
die Berührung der Atome entstehen, so sehen sie sich genötigt,
auch die Sinnesempfindungen darauf zurückzuführen, und
erklären daher diese alle als Berührungen. Daraus aber folge,
daß alle Sinne nichts andres sind als der Tastsinn, was doch
offenbar unrichtig sei.3 Die Sinnesempfindung ist vielmehr
Aufnahme der sinnlichen Form ohne Stoff, wobei sich nur die
Wirkung des Körpers dem Wahrnehmenden mitteilt.4 Ebenso
falsch sei die Auffassung Demokrits von der Seele. Da die
Seele vor allem das Bewegende ist, so nahm er an, daß sie,
um bewegen zu können, selbst bewegt sein müsse. Deshalb
sagt er, die Seele sei Feuer und warm; denn ihrer Beweg-
lichkeit wegen müsse die Seele aus den leichtbeweglichsten
Atomen, den kugelförmigen, bestehen, welche auch das Feuer
bilden, sowie die sogenannten feinen Sonnenstäubchen (#),
welche in den durch die Fenster dringenden Strahlen erscheinen
und deren Allbesamung (#) er die Elemente der gesamten
Natur nenne. Diese kugelförmigen Atome bezeichne Demokrit
ebenso wie Leukipp deshalb als Seele, weil sie am besten in alles ein-
zudringen und alles in Bewegung zu setzen vermögen. Ihr Eintreten
und Wiederaustreten, wodurch das Gleichgewicht gegen den
Druck von außen und der gesamte Lebensprozeß sich erhalte,
werde durch das Ein- und Ausatmen bewirkt.5 Die Seelenatome
seien durch den ganzen Körper verbreitet und bewegen dadurch
den Körper. Wie aber soll dann die Ruhe erklärt werden?6

Die Seele ist vielmehr kein bestimmter Stoff, wie Demokrit
annahm, weil sie alsdann nicht in jedem empfindenden Körper

1 Metaph. IV, 5. 1009 b. 12.
2 De gen. et corr. I, 2. 315 b. 9.
3 De
sensu
c. 4. p. 442a. 29.
4 Zeller 3. A. II, 2. S. 535.
5 De anima I, 2.
403 b. 31—404a. 16.
6 De anima I, 3. 406 b. 22.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0148" n="130"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Aristoteles</hi> gg. d. Atom.: Wahrnehmung.</fw><lb/>
wichtigsten Bedingung des Geschehens, infolge deren sie alles<lb/>
auf die Notwendigkeit des Naturgeschehens zurückführe.<lb/><hi rendition="#k">Aristoteles</hi> sucht den Grund dieser Irrtümer in dem erkenntnis-<lb/>
theoretischen Prinzip des <hi rendition="#k">Demokrit</hi>, indem er ihm vorwirft,<lb/>
die sinnliche Wahrnehmung mit dem Denken<note place="foot" n="1"><hi rendition="#i">Metaph.</hi> IV, 5. 1009 b. 12.</note> verwechselt und<lb/>
daher alles Wahrgenommene auch für Wahrheit<note place="foot" n="2"><hi rendition="#i">De gen. et corr.</hi> I, 2. 315 b. 9.</note> gehalten<lb/>
zu haben.</p><lb/>
                  <p>Die Sinneswahrnehmung selbst werde von den Atomisten<lb/>
falsch erklärt. Da nämlich alle Einwirkungen nach ihnen nur durch<lb/>
die Berührung der Atome entstehen, so sehen sie sich genötigt,<lb/>
auch die Sinnesempfindungen darauf zurückzuführen, und<lb/>
erklären daher diese alle als Berührungen. Daraus aber folge,<lb/>
daß alle Sinne nichts andres sind als der Tastsinn, was doch<lb/>
offenbar unrichtig sei.<note place="foot" n="3"><hi rendition="#i">De<lb/>
sensu</hi> c. 4. p. 442a. 29.</note> Die Sinnesempfindung ist vielmehr<lb/>
Aufnahme der sinnlichen Form ohne Stoff, wobei sich nur die<lb/>
Wirkung des Körpers dem Wahrnehmenden mitteilt.<note place="foot" n="4"><hi rendition="#k">Zeller</hi> 3. A. II, 2. S. 535.</note> Ebenso<lb/>
falsch sei die Auffassung <hi rendition="#k">Demokrits</hi> von der Seele. Da die<lb/>
Seele vor allem das Bewegende ist, so nahm er an, daß sie,<lb/>
um bewegen zu können, selbst bewegt sein müsse. Deshalb<lb/>
sagt er, die Seele sei Feuer und warm; denn ihrer Beweg-<lb/>
lichkeit wegen müsse die Seele aus den leichtbeweglichsten<lb/>
Atomen, den kugelförmigen, bestehen, welche auch das Feuer<lb/>
bilden, sowie die sogenannten feinen Sonnenstäubchen (#),<lb/>
welche in den durch die Fenster dringenden Strahlen erscheinen<lb/>
und deren Allbesamung (#) er die Elemente der gesamten<lb/>
Natur nenne. Diese kugelförmigen Atome bezeichne <hi rendition="#k">Demokrit</hi><lb/>
ebenso wie <hi rendition="#k">Leukipp</hi> deshalb als Seele, weil sie am besten in alles ein-<lb/>
zudringen und alles in Bewegung zu setzen vermögen. Ihr Eintreten<lb/>
und Wiederaustreten, wodurch das Gleichgewicht gegen den<lb/>
Druck von außen und der gesamte Lebensprozeß sich erhalte,<lb/>
werde durch das Ein- und Ausatmen bewirkt.<note place="foot" n="5"><hi rendition="#i">De anima</hi> I, 2.<lb/>
403 b. 31&#x2014;404a. 16.</note> Die Seelenatome<lb/>
seien durch den ganzen Körper verbreitet und bewegen dadurch<lb/>
den Körper. Wie aber soll dann die Ruhe erklärt werden?<note place="foot" n="6"><hi rendition="#i">De anima</hi> I, 3. 406 b. 22.</note></p><lb/>
                  <p>Die Seele ist vielmehr kein bestimmter Stoff, wie <hi rendition="#k">Demokrit</hi><lb/>
annahm, weil sie alsdann nicht in jedem empfindenden Körper<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0148] Aristoteles gg. d. Atom.: Wahrnehmung. wichtigsten Bedingung des Geschehens, infolge deren sie alles auf die Notwendigkeit des Naturgeschehens zurückführe. Aristoteles sucht den Grund dieser Irrtümer in dem erkenntnis- theoretischen Prinzip des Demokrit, indem er ihm vorwirft, die sinnliche Wahrnehmung mit dem Denken 1 verwechselt und daher alles Wahrgenommene auch für Wahrheit 2 gehalten zu haben. Die Sinneswahrnehmung selbst werde von den Atomisten falsch erklärt. Da nämlich alle Einwirkungen nach ihnen nur durch die Berührung der Atome entstehen, so sehen sie sich genötigt, auch die Sinnesempfindungen darauf zurückzuführen, und erklären daher diese alle als Berührungen. Daraus aber folge, daß alle Sinne nichts andres sind als der Tastsinn, was doch offenbar unrichtig sei. 3 Die Sinnesempfindung ist vielmehr Aufnahme der sinnlichen Form ohne Stoff, wobei sich nur die Wirkung des Körpers dem Wahrnehmenden mitteilt. 4 Ebenso falsch sei die Auffassung Demokrits von der Seele. Da die Seele vor allem das Bewegende ist, so nahm er an, daß sie, um bewegen zu können, selbst bewegt sein müsse. Deshalb sagt er, die Seele sei Feuer und warm; denn ihrer Beweg- lichkeit wegen müsse die Seele aus den leichtbeweglichsten Atomen, den kugelförmigen, bestehen, welche auch das Feuer bilden, sowie die sogenannten feinen Sonnenstäubchen (#), welche in den durch die Fenster dringenden Strahlen erscheinen und deren Allbesamung (#) er die Elemente der gesamten Natur nenne. Diese kugelförmigen Atome bezeichne Demokrit ebenso wie Leukipp deshalb als Seele, weil sie am besten in alles ein- zudringen und alles in Bewegung zu setzen vermögen. Ihr Eintreten und Wiederaustreten, wodurch das Gleichgewicht gegen den Druck von außen und der gesamte Lebensprozeß sich erhalte, werde durch das Ein- und Ausatmen bewirkt. 5 Die Seelenatome seien durch den ganzen Körper verbreitet und bewegen dadurch den Körper. Wie aber soll dann die Ruhe erklärt werden? 6 Die Seele ist vielmehr kein bestimmter Stoff, wie Demokrit annahm, weil sie alsdann nicht in jedem empfindenden Körper 1 Metaph. IV, 5. 1009 b. 12. 2 De gen. et corr. I, 2. 315 b. 9. 3 De sensu c. 4. p. 442a. 29. 4 Zeller 3. A. II, 2. S. 535. 5 De anima I, 2. 403 b. 31—404a. 16. 6 De anima I, 3. 406 b. 22.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/148
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/148>, abgerufen am 25.11.2024.