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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Aristoteles: Das Seiende. Form und Stoff.

Daher ruht die Physik auf der metaphysischen Grund-
frage, wie das Seiende zu denken sei. Was ist die Substanz
(#)? Weder diejenigen Naturphilosophen haben recht,
welche das Körperliche für das Seiende halten; denn sie
können nicht zur Erklärung des Geistigen gelangen; noch
kann auch Platon voll beigestimmt werden, wenn er nur die
allgemeinen Begriffe als das Seiende erklärt. Allerdings ist nur
das Allgemeine erkennbar und daher der eigentliche Gegenstand
der Wissenschaft, allerdings ist das sinnlich Wahrnehmbare
schwankend und wandelbar, so daß hinter demselben das Wesen
der Dinge aufzusuchen bleibt. Aber das Allgemeine kann
nicht seine Realität für sich, abgesondert von dem Einzelnen,
besitzen, fern von allen Bestimmungen der Einzelobjekte. Denn
es ist gerade dasjenige, was den Einzelwesen gemeinsam ist
und haftet daher stets am Einzelnen. Für sich bestehende
Substanz kann allein das Einzelwesen sein; denn Substanz ist
dasjenige, was nur Subjekt für sich ist, nicht aber als Prä-
dikat von andrem ausgesagt werden kann. So bleibt allein
das Allgemeine erkennbar, obwohl dem durch die Sinne auf-
faßbaren Einzelwesen die Realität des Seins zukommen soll.

Es fragt sich nun, wie das Einzelwesen zu dieser Realität
gelangt, wodurch es ein Bestimmtes ist. Der Begriff der
Substanzialität, den Aristoteles als Denkmittel benutzen muß,
führt zu einer Abstraktion, welche für die Physik verhängnis-
voll werden sollte, wenn er auch für andre Wissensgebiete viel-
leicht fruchtbar sein mag. Es ist die Abstraktion, welche das wirk-
liche Ding in ein Bestimmendes und ein Bestimmbares zerlegt,
eine Analogie zu derjenigen Verfahrungsweise, welche das
bewußte Denken bei der Erreichung praktischer Ziele einschlägt,
indem es einen vorhandenen Stoff mit zweckvoller Bestimmung
versieht. Das Allgemeine, welches das Einzelwesen zu dem
macht, was es ist, nennt Aristoteles die Form (#, forma),
und dasjenige, was durch die Form bestimmt wird, heißt der
Stoff (#, materia). Dieser Stoff wird zwar zur Wirklichkeit
erst durch die Form, aber er ist nicht etwas Nicht-Seiendes
schlechthin, sondern er ist die Möglichkeit des Geformt-

Philos. d. Gr., 3. Aufl., II, 2. Vgl. auch Brandis, Aristoteles und seine akade-
mischen Zeitgenossen
, Berlin 1857.
Aristoteles: Das Seiende. Form und Stoff.

Daher ruht die Physik auf der metaphysischen Grund-
frage, wie das Seiende zu denken sei. Was ist die Substanz
(#)? Weder diejenigen Naturphilosophen haben recht,
welche das Körperliche für das Seiende halten; denn sie
können nicht zur Erklärung des Geistigen gelangen; noch
kann auch Platon voll beigestimmt werden, wenn er nur die
allgemeinen Begriffe als das Seiende erklärt. Allerdings ist nur
das Allgemeine erkennbar und daher der eigentliche Gegenstand
der Wissenschaft, allerdings ist das sinnlich Wahrnehmbare
schwankend und wandelbar, so daß hinter demselben das Wesen
der Dinge aufzusuchen bleibt. Aber das Allgemeine kann
nicht seine Realität für sich, abgesondert von dem Einzelnen,
besitzen, fern von allen Bestimmungen der Einzelobjekte. Denn
es ist gerade dasjenige, was den Einzelwesen gemeinsam ist
und haftet daher stets am Einzelnen. Für sich bestehende
Substanz kann allein das Einzelwesen sein; denn Substanz ist
dasjenige, was nur Subjekt für sich ist, nicht aber als Prä-
dikat von andrem ausgesagt werden kann. So bleibt allein
das Allgemeine erkennbar, obwohl dem durch die Sinne auf-
faßbaren Einzelwesen die Realität des Seins zukommen soll.

Es fragt sich nun, wie das Einzelwesen zu dieser Realität
gelangt, wodurch es ein Bestimmtes ist. Der Begriff der
Substanzialität, den Aristoteles als Denkmittel benutzen muß,
führt zu einer Abstraktion, welche für die Physik verhängnis-
voll werden sollte, wenn er auch für andre Wissensgebiete viel-
leicht fruchtbar sein mag. Es ist die Abstraktion, welche das wirk-
liche Ding in ein Bestimmendes und ein Bestimmbares zerlegt,
eine Analogie zu derjenigen Verfahrungsweise, welche das
bewußte Denken bei der Erreichung praktischer Ziele einschlägt,
indem es einen vorhandenen Stoff mit zweckvoller Bestimmung
versieht. Das Allgemeine, welches das Einzelwesen zu dem
macht, was es ist, nennt Aristoteles die Form (#, forma),
und dasjenige, was durch die Form bestimmt wird, heißt der
Stoff (#, materia). Dieser Stoff wird zwar zur Wirklichkeit
erst durch die Form, aber er ist nicht etwas Nicht-Seiendes
schlechthin, sondern er ist die Möglichkeit des Geformt-

Philos. d. Gr., 3. Aufl., II, 2. Vgl. auch Brandis, Aristoteles und seine akade-
mischen Zeitgenossen
, Berlin 1857.
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[88/0106] Aristoteles: Das Seiende. Form und Stoff. Daher ruht die Physik auf der metaphysischen Grund- frage, wie das Seiende zu denken sei. Was ist die Substanz (#)? Weder diejenigen Naturphilosophen haben recht, welche das Körperliche für das Seiende halten; denn sie können nicht zur Erklärung des Geistigen gelangen; noch kann auch Platon voll beigestimmt werden, wenn er nur die allgemeinen Begriffe als das Seiende erklärt. Allerdings ist nur das Allgemeine erkennbar und daher der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft, allerdings ist das sinnlich Wahrnehmbare schwankend und wandelbar, so daß hinter demselben das Wesen der Dinge aufzusuchen bleibt. Aber das Allgemeine kann nicht seine Realität für sich, abgesondert von dem Einzelnen, besitzen, fern von allen Bestimmungen der Einzelobjekte. Denn es ist gerade dasjenige, was den Einzelwesen gemeinsam ist und haftet daher stets am Einzelnen. Für sich bestehende Substanz kann allein das Einzelwesen sein; denn Substanz ist dasjenige, was nur Subjekt für sich ist, nicht aber als Prä- dikat von andrem ausgesagt werden kann. So bleibt allein das Allgemeine erkennbar, obwohl dem durch die Sinne auf- faßbaren Einzelwesen die Realität des Seins zukommen soll. Es fragt sich nun, wie das Einzelwesen zu dieser Realität gelangt, wodurch es ein Bestimmtes ist. Der Begriff der Substanzialität, den Aristoteles als Denkmittel benutzen muß, führt zu einer Abstraktion, welche für die Physik verhängnis- voll werden sollte, wenn er auch für andre Wissensgebiete viel- leicht fruchtbar sein mag. Es ist die Abstraktion, welche das wirk- liche Ding in ein Bestimmendes und ein Bestimmbares zerlegt, eine Analogie zu derjenigen Verfahrungsweise, welche das bewußte Denken bei der Erreichung praktischer Ziele einschlägt, indem es einen vorhandenen Stoff mit zweckvoller Bestimmung versieht. Das Allgemeine, welches das Einzelwesen zu dem macht, was es ist, nennt Aristoteles die Form (#, forma), und dasjenige, was durch die Form bestimmt wird, heißt der Stoff (#, materia). Dieser Stoff wird zwar zur Wirklichkeit erst durch die Form, aber er ist nicht etwas Nicht-Seiendes schlechthin, sondern er ist die Möglichkeit des Geformt- 2 2 Philos. d. Gr., 3. Aufl., II, 2. Vgl. auch Brandis, Aristoteles und seine akade- mischen Zeitgenossen, Berlin 1857.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/106>, abgerufen am 23.11.2024.