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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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die sie sonst bey dem Anblick einer schö-
nen Gegend fühlten.

Sie schwieg einige Minuten, und be-
trachtete den Himmel um uns her; dann
sagte sie unter zärtlichen Weinen:

Es ist wahr, liebe Rosina, ich lebe,
als ob mein Unglück alles Gute und
Angenehme auf Erden verschlungen
hätte; und dennoch liegt die Ursache
meines Jammers weder in den Ge-
schöpfen, noch in ihrem wohlthätigen
Urheber. Warum bin ich von der vor-
geschriebenen Bahn abgewichen? --

Sie fieng darauf eine Wiederholung
ihres Lebens, und der merkwürdigsten Um-
stände ihres Schicksals an. Jch suchte
sie mit sich selbst, und den Beweggründen
ihrer Handlungen, besonders mit den Ur-
sachen ihrer heimlichen Heurath, und
Flucht aus D., zufrieden zu stellen, und
gewann doch so viel, daß sie bey dem An-
blick der vollen Scheuren, und dem Ge-
wühle der Herbstgeschäffte in den Dörfern
die wir durchfuhren, vergnügt aussah,
und sich über das Wohl der Landleute

freute.


die ſie ſonſt bey dem Anblick einer ſchoͤ-
nen Gegend fuͤhlten.

Sie ſchwieg einige Minuten, und be-
trachtete den Himmel um uns her; dann
ſagte ſie unter zaͤrtlichen Weinen:

Es iſt wahr, liebe Roſina, ich lebe,
als ob mein Ungluͤck alles Gute und
Angenehme auf Erden verſchlungen
haͤtte; und dennoch liegt die Urſache
meines Jammers weder in den Ge-
ſchoͤpfen, noch in ihrem wohlthaͤtigen
Urheber. Warum bin ich von der vor-
geſchriebenen Bahn abgewichen? —

Sie fieng darauf eine Wiederholung
ihres Lebens, und der merkwuͤrdigſten Um-
ſtaͤnde ihres Schickſals an. Jch ſuchte
ſie mit ſich ſelbſt, und den Beweggruͤnden
ihrer Handlungen, beſonders mit den Ur-
ſachen ihrer heimlichen Heurath, und
Flucht aus D., zufrieden zu ſtellen, und
gewann doch ſo viel, daß ſie bey dem An-
blick der vollen Scheuren, und dem Ge-
wuͤhle der Herbſtgeſchaͤffte in den Doͤrfern
die wir durchfuhren, vergnuͤgt ausſah,
und ſich uͤber das Wohl der Landleute

freute.
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[63/0069] die ſie ſonſt bey dem Anblick einer ſchoͤ- nen Gegend fuͤhlten. Sie ſchwieg einige Minuten, und be- trachtete den Himmel um uns her; dann ſagte ſie unter zaͤrtlichen Weinen: Es iſt wahr, liebe Roſina, ich lebe, als ob mein Ungluͤck alles Gute und Angenehme auf Erden verſchlungen haͤtte; und dennoch liegt die Urſache meines Jammers weder in den Ge- ſchoͤpfen, noch in ihrem wohlthaͤtigen Urheber. Warum bin ich von der vor- geſchriebenen Bahn abgewichen? — Sie fieng darauf eine Wiederholung ihres Lebens, und der merkwuͤrdigſten Um- ſtaͤnde ihres Schickſals an. Jch ſuchte ſie mit ſich ſelbſt, und den Beweggruͤnden ihrer Handlungen, beſonders mit den Ur- ſachen ihrer heimlichen Heurath, und Flucht aus D., zufrieden zu ſtellen, und gewann doch ſo viel, daß ſie bey dem An- blick der vollen Scheuren, und dem Ge- wuͤhle der Herbſtgeſchaͤffte in den Doͤrfern die wir durchfuhren, vergnuͤgt ausſah, und ſich uͤber das Wohl der Landleute freute.

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/69>, abgerufen am 25.11.2024.