ich sammle Muth, um Seymourn zu stützen, aber ich bin selbst wie ein Rohr, und ich fürchte, bey dem Anblick dieser Leiche, mit ihm zu sinken. Denn ich liebte sie nicht mit der jugendlich aufwal- lenden Leidenschaft meines Bruders; mei- ne Liebe war von der Art Anhänglich- keit, welche, ein edeldenkender Mann für Rechtschaffenheit, Weisheit, und Menschenliebe fühlt. Niemals hab' ich Verstand und Empfindungen so moralisch gesehen als beyde in mir waren; niemals das Große mit einem so richtigen Maaß wahrer Würde, und das Kleine mit einer so reizenden Leichtigkeit behandeln gese- hen. Jhr Umgang hätte das Glück ei- nes ganzen Kreises geistvoller und tu- gendliebender Personen gemacht; -- und hier mußte sie unter aufgethürmten Stei- nen, bey eben so gefühllosen Menschen, unter der höchsten Marter des Gemüths, ihren schönen Geist aufgeben! O Vor- sicht! du siehst die Frage, welche in mei- ner Seele schwebt; aber du siehst auch die Ehrerbietung für das unergründliche dei-
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ich ſammle Muth, um Seymourn zu ſtuͤtzen, aber ich bin ſelbſt wie ein Rohr, und ich fuͤrchte, bey dem Anblick dieſer Leiche, mit ihm zu ſinken. Denn ich liebte ſie nicht mit der jugendlich aufwal- lenden Leidenſchaft meines Bruders; mei- ne Liebe war von der Art Anhaͤnglich- keit, welche, ein edeldenkender Mann fuͤr Rechtſchaffenheit, Weisheit, und Menſchenliebe fuͤhlt. Niemals hab’ ich Verſtand und Empfindungen ſo moraliſch geſehen als beyde in mir waren; niemals das Große mit einem ſo richtigen Maaß wahrer Wuͤrde, und das Kleine mit einer ſo reizenden Leichtigkeit behandeln geſe- hen. Jhr Umgang haͤtte das Gluͤck ei- nes ganzen Kreiſes geiſtvoller und tu- gendliebender Perſonen gemacht; — und hier mußte ſie unter aufgethuͤrmten Stei- nen, bey eben ſo gefuͤhlloſen Menſchen, unter der hoͤchſten Marter des Gemuͤths, ihren ſchoͤnen Geiſt aufgeben! O Vor- ſicht! du ſiehſt die Frage, welche in mei- ner Seele ſchwebt; aber du ſiehſt auch die Ehrerbietung fuͤr das unergruͤndliche dei-
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ich ſammle Muth, um Seymourn zu
ſtuͤtzen, aber ich bin ſelbſt wie ein Rohr,
und ich fuͤrchte, bey dem Anblick dieſer
Leiche, mit ihm zu ſinken. Denn ich
liebte ſie nicht mit der jugendlich aufwal-
lenden Leidenſchaft meines Bruders; mei-
ne Liebe war von der Art Anhaͤnglich-
keit, welche, ein edeldenkender Mann
fuͤr Rechtſchaffenheit, Weisheit, und
Menſchenliebe fuͤhlt. Niemals hab’ ich
Verſtand und Empfindungen ſo moraliſch
geſehen als beyde in mir waren; niemals
das Große mit einem ſo richtigen Maaß
wahrer Wuͤrde, und das Kleine mit einer
ſo reizenden Leichtigkeit behandeln geſe-
hen. Jhr Umgang haͤtte das Gluͤck ei-
nes ganzen Kreiſes geiſtvoller und tu-
gendliebender Perſonen gemacht; — und
hier mußte ſie unter aufgethuͤrmten Stei-
nen, bey eben ſo gefuͤhlloſen Menſchen,
unter der hoͤchſten Marter des Gemuͤths,
ihren ſchoͤnen Geiſt aufgeben! O Vor-
ſicht! du ſiehſt die Frage, welche in mei-
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/265>, abgerufen am 22.11.2024.
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