[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.willigkeit meinem Rathe zu folgen. Die besten Sachen, so eine reiche und glück- liche Person gesagt hätte, würden wenig Eindruck gemacht haben; aber der Ge- danke, daß auch ich arm sey, und andern unterworfen leben müsse, brachte Biegsam- keit in ihre Gemüther. Jch fragte: was sie an meiner Stelle würden gethan ha- ben? Sie fanden aber meine Moral gut, und wünschten auch so zu denken. Dar- auf gieng ich in den Vorschlag ein, was ich an ihrem Platze thun würde; und sie waren es herzlich zufrieden. O, dachte ich, wenn man bey Beweggründen zum Guten allezeit in die Umstände und Nei- gungen der Leute eingienge, und der uns allen gegebenen Eigenliebe nicht schnur- stracks Gewalt anthun wollte, sondern sie mit eben der Klugheit zum Hülfsmittel verwände, wodurch der schmeichelnde Verführer sie zu seinem Endzweck zu len- ken weiß: so würde die Moral schon längst die Grenzen ihres Reichs und die Zahl ihrer Ergebenen vergrößert haben. Eigen-
willigkeit meinem Rathe zu folgen. Die beſten Sachen, ſo eine reiche und gluͤck- liche Perſon geſagt haͤtte, wuͤrden wenig Eindruck gemacht haben; aber der Ge- danke, daß auch ich arm ſey, und andern unterworfen leben muͤſſe, brachte Biegſam- keit in ihre Gemuͤther. Jch fragte: was ſie an meiner Stelle wuͤrden gethan ha- ben? Sie fanden aber meine Moral gut, und wuͤnſchten auch ſo zu denken. Dar- auf gieng ich in den Vorſchlag ein, was ich an ihrem Platze thun wuͤrde; und ſie waren es herzlich zufrieden. O, dachte ich, wenn man bey Beweggruͤnden zum Guten allezeit in die Umſtaͤnde und Nei- gungen der Leute eingienge, und der uns allen gegebenen Eigenliebe nicht ſchnur- ſtracks Gewalt anthun wollte, ſondern ſie mit eben der Klugheit zum Huͤlfsmittel verwaͤnde, wodurch der ſchmeichelnde Verfuͤhrer ſie zu ſeinem Endzweck zu len- ken weiß: ſo wuͤrde die Moral ſchon laͤngſt die Grenzen ihres Reichs und die Zahl ihrer Ergebenen vergroͤßert haben. Eigen-
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ihr Herz zum Vertrauen, und zur Bereit-
willigkeit meinem Rathe zu folgen. Die
beſten Sachen, ſo eine reiche und gluͤck-
liche Perſon geſagt haͤtte, wuͤrden wenig
Eindruck gemacht haben; aber der Ge-
danke, daß auch ich arm ſey, und andern
unterworfen leben muͤſſe, brachte Biegſam-
keit in ihre Gemuͤther. Jch fragte: was
ſie an meiner Stelle wuͤrden gethan ha-
ben? Sie fanden aber meine Moral gut,
und wuͤnſchten auch ſo zu denken. Dar-
auf gieng ich in den Vorſchlag ein, was
ich an ihrem Platze thun wuͤrde; und ſie
waren es herzlich zufrieden. O, dachte
ich, wenn man bey Beweggruͤnden zum
Guten allezeit in die Umſtaͤnde und Nei-
gungen der Leute eingienge, und der uns
allen gegebenen Eigenliebe nicht ſchnur-
ſtracks Gewalt anthun wollte, ſondern ſie
mit eben der Klugheit zum Huͤlfsmittel
verwaͤnde, wodurch der ſchmeichelnde
Verfuͤhrer ſie zu ſeinem Endzweck zu len-
ken weiß: ſo wuͤrde die Moral ſchon
laͤngſt die Grenzen ihres Reichs und die
Zahl ihrer Ergebenen vergroͤßert haben.
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Zitationshilfe: | [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/106>, abgerufen am 16.02.2025. |