Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

wollte auch nicht unbescheiden mit ihr han-
deln; sie solle mich für ihre Freundin an-
sehen, die nichts anders wünsche, als
ihr an einem fremden Orte nützlich zu
seyn. Eine Menge Thränen hinderten sie
zu reden, dabey sah sie mich mit einem
von Hoffnung und Jammer bezeichneten
Gesichte an.

Jch reichte ihr wehmüthig die Hand.
Sie leiden für Sie und Jhre Kinder unter
einem harten Schicksal, sagte ich; ich bin
reich und unabhängig, mein Herz kennt
die Pflichten, welche Menschlichkeit und
Religion den Begüterten auflegen; gön-
nen Sie mir das Vergnügen diese Pflich-
ten zu erfüllen, und Jhren Kummer zu
erleichtern. Jndem ich dieses sagte, nahm
ich von meinem Gelde, bat sie, es anzu-
nehmen, und mir den Ort ihres Aufent-
halts zu sagen. Die gute Frau rütsche
von ihrem Stuhle auf die Erde, und rief
mit äußerster Bewegung aus:

O Gott, was für ein edles Herz läßt
du mich antreffen!

Die
N 4

wollte auch nicht unbeſcheiden mit ihr han-
deln; ſie ſolle mich fuͤr ihre Freundin an-
ſehen, die nichts anders wuͤnſche, als
ihr an einem fremden Orte nuͤtzlich zu
ſeyn. Eine Menge Thraͤnen hinderten ſie
zu reden, dabey ſah ſie mich mit einem
von Hoffnung und Jammer bezeichneten
Geſichte an.

Jch reichte ihr wehmuͤthig die Hand.
Sie leiden fuͤr Sie und Jhre Kinder unter
einem harten Schickſal, ſagte ich; ich bin
reich und unabhaͤngig, mein Herz kennt
die Pflichten, welche Menſchlichkeit und
Religion den Beguͤterten auflegen; goͤn-
nen Sie mir das Vergnuͤgen dieſe Pflich-
ten zu erfuͤllen, und Jhren Kummer zu
erleichtern. Jndem ich dieſes ſagte, nahm
ich von meinem Gelde, bat ſie, es anzu-
nehmen, und mir den Ort ihres Aufent-
halts zu ſagen. Die gute Frau ruͤtſche
von ihrem Stuhle auf die Erde, und rief
mit aͤußerſter Bewegung aus:

O Gott, was fuͤr ein edles Herz laͤßt
du mich antreffen!

Die
N 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0225" n="199"/>
wollte auch nicht unbe&#x017F;cheiden mit ihr han-<lb/>
deln; &#x017F;ie &#x017F;olle mich fu&#x0364;r ihre Freundin an-<lb/>
&#x017F;ehen, die nichts anders wu&#x0364;n&#x017F;che, als<lb/>
ihr an einem fremden Orte nu&#x0364;tzlich zu<lb/>
&#x017F;eyn. Eine Menge Thra&#x0364;nen hinderten &#x017F;ie<lb/>
zu reden, dabey &#x017F;ah &#x017F;ie mich mit einem<lb/>
von Hoffnung und Jammer bezeichneten<lb/>
Ge&#x017F;ichte an.</p><lb/>
          <p>Jch reichte ihr wehmu&#x0364;thig die Hand.<lb/>
Sie leiden fu&#x0364;r Sie und Jhre Kinder unter<lb/>
einem harten Schick&#x017F;al, &#x017F;agte ich; ich bin<lb/>
reich und unabha&#x0364;ngig, mein Herz kennt<lb/>
die Pflichten, welche Men&#x017F;chlichkeit und<lb/>
Religion den Begu&#x0364;terten auflegen; go&#x0364;n-<lb/>
nen Sie mir das Vergnu&#x0364;gen die&#x017F;e Pflich-<lb/>
ten zu erfu&#x0364;llen, und Jhren Kummer zu<lb/>
erleichtern. Jndem ich die&#x017F;es &#x017F;agte, nahm<lb/>
ich von meinem Gelde, bat &#x017F;ie, es anzu-<lb/>
nehmen, und mir den Ort ihres Aufent-<lb/>
halts zu &#x017F;agen. Die gute Frau ru&#x0364;t&#x017F;che<lb/>
von ihrem Stuhle auf die Erde, und rief<lb/>
mit a&#x0364;ußer&#x017F;ter Bewegung aus:</p><lb/>
          <p>O Gott, was fu&#x0364;r ein edles Herz la&#x0364;ßt<lb/>
du mich antreffen!</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">N 4</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0225] wollte auch nicht unbeſcheiden mit ihr han- deln; ſie ſolle mich fuͤr ihre Freundin an- ſehen, die nichts anders wuͤnſche, als ihr an einem fremden Orte nuͤtzlich zu ſeyn. Eine Menge Thraͤnen hinderten ſie zu reden, dabey ſah ſie mich mit einem von Hoffnung und Jammer bezeichneten Geſichte an. Jch reichte ihr wehmuͤthig die Hand. Sie leiden fuͤr Sie und Jhre Kinder unter einem harten Schickſal, ſagte ich; ich bin reich und unabhaͤngig, mein Herz kennt die Pflichten, welche Menſchlichkeit und Religion den Beguͤterten auflegen; goͤn- nen Sie mir das Vergnuͤgen dieſe Pflich- ten zu erfuͤllen, und Jhren Kummer zu erleichtern. Jndem ich dieſes ſagte, nahm ich von meinem Gelde, bat ſie, es anzu- nehmen, und mir den Ort ihres Aufent- halts zu ſagen. Die gute Frau ruͤtſche von ihrem Stuhle auf die Erde, und rief mit aͤußerſter Bewegung aus: O Gott, was fuͤr ein edles Herz laͤßt du mich antreffen! Die N 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/225
Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/225>, abgerufen am 22.11.2024.