sie endlich gen Himmel gehoben, und das Andenken ihres Vaters und noch eines Mannes für ihren Unterricht gesegnet hät- te. Dieser Anblick hätte ihn staunen ge- macht; und wie das Fräulein ihn gewahr worden, habe sie gerufen: "O Milord, "sie sind gar nicht geschickt mich in diesem "Augenblicke zu unterhalten; haben sie "die Güte zu gehen, und mich bey meiner "Tante zu entschuldigen; ich werde heute "niemand sehen." Das feyerliche und rührende Ansehen, so sie gehabt, hätte ihm ihren Vorwurf zweyfach verbittert, da er die Geringschätzung gefühlt, die sie für seine Denkungsart habe. Er hätte auch geantwortet; wenn sie die Ehrfurcht se- hen könnte, die er in diesem Augenblicke für sie fühlte, so würde sie ihn ihres Ver- trauens würdiger achten. Da sie aber, ohne ihm zu antworten, ihren Kopf auf den von ihrem Mädchen gelegt, wäre er fortgegangen, und hätte von der Gräfin L* gehört, daß ihre Scene den Tod des Pfarrers von P. angienge, der das Fräu- lein zum Theil erzogen und der Vater ih-
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ſie endlich gen Himmel gehoben, und das Andenken ihres Vaters und noch eines Mannes fuͤr ihren Unterricht geſegnet haͤt- te. Dieſer Anblick haͤtte ihn ſtaunen ge- macht; und wie das Fraͤulein ihn gewahr worden, habe ſie gerufen: „O Milord, „ſie ſind gar nicht geſchickt mich in dieſem „Augenblicke zu unterhalten; haben ſie „die Guͤte zu gehen, und mich bey meiner „Tante zu entſchuldigen; ich werde heute „niemand ſehen.“ Das feyerliche und ruͤhrende Anſehen, ſo ſie gehabt, haͤtte ihm ihren Vorwurf zweyfach verbittert, da er die Geringſchaͤtzung gefuͤhlt, die ſie fuͤr ſeine Denkungsart habe. Er haͤtte auch geantwortet; wenn ſie die Ehrfurcht ſe- hen koͤnnte, die er in dieſem Augenblicke fuͤr ſie fuͤhlte, ſo wuͤrde ſie ihn ihres Ver- trauens wuͤrdiger achten. Da ſie aber, ohne ihm zu antworten, ihren Kopf auf den von ihrem Maͤdchen gelegt, waͤre er fortgegangen, und haͤtte von der Graͤfin L* gehoͤrt, daß ihre Scene den Tod des Pfarrers von P. angienge, der das Fraͤu- lein zum Theil erzogen und der Vater ih-
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ſie endlich gen Himmel gehoben, und das
Andenken ihres Vaters und noch eines
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macht; und wie das Fraͤulein ihn gewahr
worden, habe ſie gerufen: „O Milord,
„ſie ſind gar nicht geſchickt mich in dieſem
„Augenblicke zu unterhalten; haben ſie
„die Guͤte zu gehen, und mich bey meiner
„Tante zu entſchuldigen; ich werde heute
„niemand ſehen.“ Das feyerliche und
ruͤhrende Anſehen, ſo ſie gehabt, haͤtte ihm
ihren Vorwurf zweyfach verbittert, da er
die Geringſchaͤtzung gefuͤhlt, die ſie fuͤr
ſeine Denkungsart habe. Er haͤtte auch
geantwortet; wenn ſie die Ehrfurcht ſe-
hen koͤnnte, die er in dieſem Augenblicke
fuͤr ſie fuͤhlte, ſo wuͤrde ſie ihn ihres Ver-
trauens wuͤrdiger achten. Da ſie aber,
ohne ihm zu antworten, ihren Kopf auf
den von ihrem Maͤdchen gelegt, waͤre er
fortgegangen, und haͤtte von der Graͤfin
L* gehoͤrt, daß ihre Scene den Tod des
Pfarrers von P. angienge, der das Fraͤu-
lein zum Theil erzogen und der Vater ih-
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/200>, abgerufen am 23.11.2024.
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