Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

"habe keine Verwandten mehr, als diese
"Gebeine, sagte sie. Die Gräfin Löbau
"ist nicht meine Verwandtin; ihre Seele
"ist mir fremde, ganz fremde, ich liebe sie
"nur, weil sie die Schwester meines
"Oheims war." Mein Vater suchte ihr
diese Abneigung, als eine Ungerechtigkeit,
zu benehmen, und war überhaupt bemüht,
alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er-
neuern, und besonders auch ihr Talent
für die Musik zu unterhalten. Er sagte
uns oft: Daß es gut und wahr wäre,
daß die Tugenden alle an einer Kette gien-
gen, und also die Beschaffenheit auch mit
dabey sey. Und was würde auch aus
der Fräulein von Sternheim geworden
seyn, wenn sie sich aller ihrer Vorzüge in
der Vollkommenheit bewußt gewesen wäre,
worinn sie sie besaß?

Der Sternheimische Beamte, ein recht-
schaffener Mann, heyrathete um diese
Zeit meine älteste Schwester; und sein
Bruder, ein Pfarrer, der ihn besuchte,
nahm meine Emilia mit sich; mit dieser
führte unser Fräulein einen Briefwechsel,

welcher
F

„habe keine Verwandten mehr, als dieſe
„Gebeine, ſagte ſie. Die Graͤfin Loͤbau
„iſt nicht meine Verwandtin; ihre Seele
„iſt mir fremde, ganz fremde, ich liebe ſie
„nur, weil ſie die Schweſter meines
„Oheims war.“ Mein Vater ſuchte ihr
dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit,
zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht,
alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er-
neuern, und beſonders auch ihr Talent
fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte
uns oft: Daß es gut und wahr waͤre,
daß die Tugenden alle an einer Kette gien-
gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit
dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus
der Fraͤulein von Sternheim geworden
ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in
der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre,
worinn ſie ſie beſaß?

Der Sternheimiſche Beamte, ein recht-
ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe
Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein
Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte,
nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer
fuͤhrte unſer Fraͤulein einen Briefwechſel,

welcher
F
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0107" n="81"/>
&#x201E;habe keine Verwandten mehr, als die&#x017F;e<lb/>
&#x201E;Gebeine, &#x017F;agte &#x017F;ie. Die Gra&#x0364;fin Lo&#x0364;bau<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t nicht meine Verwandtin; ihre Seele<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t mir fremde, ganz fremde, ich liebe &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;nur, weil &#x017F;ie die Schwe&#x017F;ter meines<lb/>
&#x201E;Oheims war.&#x201C; Mein Vater &#x017F;uchte ihr<lb/>
die&#x017F;e Abneigung, als eine Ungerechtigkeit,<lb/>
zu benehmen, und war u&#x0364;berhaupt bemu&#x0364;ht,<lb/>
alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er-<lb/>
neuern, und be&#x017F;onders auch ihr Talent<lb/>
fu&#x0364;r die Mu&#x017F;ik zu unterhalten. Er &#x017F;agte<lb/>
uns oft: Daß es gut und wahr wa&#x0364;re,<lb/>
daß die Tugenden alle an einer Kette gien-<lb/>
gen, und al&#x017F;o die Be&#x017F;chaffenheit auch mit<lb/>
dabey &#x017F;ey. Und was wu&#x0364;rde auch aus<lb/>
der Fra&#x0364;ulein von Sternheim geworden<lb/>
&#x017F;eyn, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich aller ihrer Vorzu&#x0364;ge in<lb/>
der Vollkommenheit bewußt gewe&#x017F;en wa&#x0364;re,<lb/>
worinn &#x017F;ie &#x017F;ie be&#x017F;aß?</p><lb/>
          <p>Der Sternheimi&#x017F;che Beamte, ein recht-<lb/>
&#x017F;chaffener Mann, heyrathete um die&#x017F;e<lb/>
Zeit meine a&#x0364;lte&#x017F;te Schwe&#x017F;ter; und &#x017F;ein<lb/>
Bruder, ein Pfarrer, der ihn be&#x017F;uchte,<lb/>
nahm meine Emilia mit &#x017F;ich; mit die&#x017F;er<lb/>
fu&#x0364;hrte un&#x017F;er Fra&#x0364;ulein einen Briefwech&#x017F;el,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F</fw><fw place="bottom" type="catch">welcher</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0107] „habe keine Verwandten mehr, als dieſe „Gebeine, ſagte ſie. Die Graͤfin Loͤbau „iſt nicht meine Verwandtin; ihre Seele „iſt mir fremde, ganz fremde, ich liebe ſie „nur, weil ſie die Schweſter meines „Oheims war.“ Mein Vater ſuchte ihr dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit, zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht, alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er- neuern, und beſonders auch ihr Talent fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte uns oft: Daß es gut und wahr waͤre, daß die Tugenden alle an einer Kette gien- gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus der Fraͤulein von Sternheim geworden ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre, worinn ſie ſie beſaß? Der Sternheimiſche Beamte, ein recht- ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte, nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer fuͤhrte unſer Fraͤulein einen Briefwechſel, welcher F

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/107
Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/107>, abgerufen am 23.11.2024.