§. 157. Die Dame ist nach den alten Gesetzen, wie sie sich z. B. noch im Schachzabel von 1507 finden, der schwächste Officier. Sie konnte nur zur Seite ein Feld vor und rückwärts, d. h. schräg, wie die Laufer gehen; ausser- dem stand ihr als erster Zug ein Sprung über ein selbst besetztes Feld zu Gebote. Somit erklärt sich, dass ein Bauer, welcher die letzte Felderreihe erreichte, stets den Rang der Dame, d. h. des zunächst höheren Stückes, also des schwächsten Officiers erlangte. Dies geschah selbst, wenn sich auch die Dame noch im Spiele befand. Bei den alten Indiern war unsere Dame der Feldherr und hiess darum später bei den Persern Vezir oder Ferz (d. i. Verstand, Weisheit), aus welchem Namen das mittellateinische ferzia wurde und die gewälschten Ueberklänge fierce, fierche, fierge, endlich zu vierge, d. i. virgo oder Dame, führten. Der rit- terliche Sinn des frauendienstlichen Mittelalters liess aber die frau kunigin den wichtigsten Einfluss auf das ganze Spiel gewinnen. So wurde ihr Zug bis zur grössten Frei- heit, d. h. bis zur gegenwärtigen Gangweise ausgedehnt.
§. 158. Thurm und Springer haben von jeher ihre Gangweise beibehalten. Der Laufer aber war früher in seinem Gange sehr beschränkt, denn er durfte nur schräg über ein Feld weg in das nächste springen, so dass er vom Mittelfelde d 4 aus nur die vier Punkte b 6, f 6, b 2 und f 2 beherrschte. Uebrigens hatte früher diese Figur im persi- schen Schachspiel ein ganz eigenthümliches Privileg. Wenn nämlich dort ein Läufer fünf Principalsteine geschlagen hatte und die Königin seiner Partei nicht mehr vorhanden war, so bekam er deren Würde.
§. 159. Der Bauer hat von Anfang seine beschränkte Gangweise gehabt; ja früher war ihm selbst bei seinem ersten Zuge nicht einmal die Concession des Zweischrittes gestattet. Das Gesetz des unbeschränkten Avancement hat aber wenigstens in Deutschland stets bestanden. Danach kann ein Bauer zu jedem beliebigen Officier, selbst wenn letzterer noch nicht geschlagen ist, gemacht werden. Man- cherlei Abweichung findet sich endlich beim Privileg des en passant Schlagens. Es sei hier nur erwähnt, dass gegen-
§. 157. Die Dame ist nach den alten Gesetzen, wie sie sich z. B. noch im Schachzabel von 1507 finden, der schwächste Officier. Sie konnte nur zur Seite ein Feld vor und rückwärts, d. h. schräg, wie die Laufer gehen; ausser- dem stand ihr als erster Zug ein Sprung über ein selbst besetztes Feld zu Gebote. Somit erklärt sich, dass ein Bauer, welcher die letzte Felderreihe erreichte, stets den Rang der Dame, d. h. des zunächst höheren Stückes, also des schwächsten Officiers erlangte. Dies geschah selbst, wenn sich auch die Dame noch im Spiele befand. Bei den alten Indiern war unsere Dame der Feldherr und hiess darum später bei den Persern Vezir oder Ferz (d. i. Verstand, Weisheit), aus welchem Namen das mittellateinische ferzia wurde und die gewälschten Ueberklänge fierce, fierche, fierge, endlich zu vierge, d. i. virgo oder Dame, führten. Der rit- terliche Sinn des frauendienstlichen Mittelalters liess aber die frau kunigin den wichtigsten Einfluss auf das ganze Spiel gewinnen. So wurde ihr Zug bis zur grössten Frei- heit, d. h. bis zur gegenwärtigen Gangweise ausgedehnt.
§. 158. Thurm und Springer haben von jeher ihre Gangweise beibehalten. Der Laufer aber war früher in seinem Gange sehr beschränkt, denn er durfte nur schräg über ein Feld weg in das nächste springen, so dass er vom Mittelfelde d 4 aus nur die vier Punkte b 6, f 6, b 2 und f 2 beherrschte. Uebrigens hatte früher diese Figur im persi- schen Schachspiel ein ganz eigenthümliches Privileg. Wenn nämlich dort ein Läufer fünf Principalsteine geschlagen hatte und die Königin seiner Partei nicht mehr vorhanden war, so bekam er deren Würde.
§. 159. Der Bauer hat von Anfang seine beschränkte Gangweise gehabt; ja früher war ihm selbst bei seinem ersten Zuge nicht einmal die Concession des Zweischrittes gestattet. Das Gesetz des unbeschränkten Avancement hat aber wenigstens in Deutschland stets bestanden. Danach kann ein Bauer zu jedem beliebigen Officíer, selbst wenn letzterer noch nicht geschlagen ist, gemacht werden. Man- cherlei Abweichung findet sich endlich beim Privileg des en passant Schlagens. Es sei hier nur erwähnt, dass gegen-
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und rückwärts, d. h. schräg, wie die Laufer gehen; ausser-
dem stand ihr als erster Zug ein Sprung über ein selbst
besetztes Feld zu Gebote. Somit erklärt sich, dass ein
Bauer, welcher die letzte Felderreihe erreichte, stets den
Rang der Dame, d. h. des zunächst höheren Stückes, also
des schwächsten Officiers erlangte. Dies geschah selbst,
wenn sich auch die Dame noch im Spiele befand. Bei den
alten Indiern war unsere Dame der Feldherr und hiess darum
später bei den Persern Vezir oder Ferz (d. i. Verstand,
Weisheit), aus welchem Namen das mittellateinische ferzia
wurde und die gewälschten Ueberklänge fierce, fierche, fierge,
endlich zu vierge, d. i. virgo oder Dame, führten. Der rit-
terliche Sinn des frauendienstlichen Mittelalters liess aber
die frau kunigin den wichtigsten Einfluss auf das ganze
Spiel gewinnen. So wurde ihr Zug bis zur grössten Frei-
heit, d. h. bis zur gegenwärtigen Gangweise ausgedehnt.
§. 158. Thurm und Springer haben von jeher ihre
Gangweise beibehalten. Der Laufer aber war früher in
seinem Gange sehr beschränkt, denn er durfte nur schräg
über ein Feld weg in das nächste springen, so dass er vom
Mittelfelde d 4 aus nur die vier Punkte b 6, f 6, b 2 und f 2
beherrschte. Uebrigens hatte früher diese Figur im persi-
schen Schachspiel ein ganz eigenthümliches Privileg. Wenn
nämlich dort ein Läufer fünf Principalsteine geschlagen hatte
und die Königin seiner Partei nicht mehr vorhanden war,
so bekam er deren Würde.
§. 159. Der Bauer hat von Anfang seine beschränkte
Gangweise gehabt; ja früher war ihm selbst bei seinem
ersten Zuge nicht einmal die Concession des Zweischrittes
gestattet. Das Gesetz des unbeschränkten Avancement hat
aber wenigstens in Deutschland stets bestanden. Danach
kann ein Bauer zu jedem beliebigen Officíer, selbst wenn
letzterer noch nicht geschlagen ist, gemacht werden. Man-
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Lange, Max: Lehrbuch des Schachspiels. Halle (Saale), 1856, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_schachspiel_1856/115>, abgerufen am 16.07.2024.
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