[Spaltenumbruch]derliche Liebe, meneto soll vest bleiben, ja menei, sie bleibet vest.
7. Der besondere Nutze, welchen ange- fochtene Seelen aus der Bruderliebe haben, ist dieser, daß sie daraus von ihrer Kindschaft bey GOTT können eine überzeugende Versiche- rung haben. Denn ich verstehe solche ange- fochtene und furchtsame Seelen, welche an ih- rem Gnaden-Stande, darinn sie doch wircklich stehen, zweifeln, und sich daher sehr ängstigen und beunruhigen. Diese dürfen sich nur gewis- se ihnen wohlbekannte gottselige Seelen vor- stellen, und sich untersuchen, ob sie nicht eine gehörige Hochachtung und eine zarte Zuneigung gegen ihnen in sich finden, also daß sie sich über ihren Umgang freuen; hingegen aber von der Gesellschaft der eitlen Welt-Menschen eine heimliche Abkehrung in sich befinden? Jst es nun dem also, wohlan! so ist ein gewisses Kennzei- chen des Gnaden-Standes vorhanden, da nem- lich ein Kind GOttes das andere liebet. Die- ses Kennzeichen weiset uns Johannes an, wenn er Ep. 1. c. 3, 14. spricht: Wir wissen, daß wir aus dem Tode ins Leben kommen sind: Denn wir lieben die Brüder: Wer den Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode.
8. Der allernachdrücklichste Spruch, den wir von der Bruder-Liebe in der heiligen Schrift haben, ist dieser 1 Pet. 1, 22. 23. Ma- chet keusch eure Seelen im Gehorsam der Wahrheit durch den Geist zu ungefärbter Bruder-Liebe, und habet euch unter ein- ander brünstig lieb aus reinem Hertzen; als die da wiederum geboren sind, nicht aus vergänglichen, sondern aus unvergäng- lichen Samen, nemlich aus dem lebendi- gen Worte GOttes, das da ewig bleibet. Denn alhier wird uns angezeiget der wahren Bruder-Liebe Grund, die Wiedergeburt, und also auch die gemeinschaftliche Kindschaft aus GOtt: Ferner die darzu erfoderte Keuschma- chung, oder Heiligung und Reinigung des Hertzens, daß man nicht eine unlautere Natur- Liebe für die wahre Bruder-Liebe ansehe, oder sich solche einschleiche: nicht weniger auch die eigentliche Beschaffenheit, daß sie seyn soll ungefärbt und brünstig. Jm übrigen hat man hiebey auch folgende Oerter zu conferi- ren: Röm. 7, 10. 1 Thess. 4, 9. 1 Petr. 3, 8. 2 Petr. 1, 8.
V. 2.
Gastfrey zu seyn vergesset nicht: denn durch dasselbe haben etliche ohne ihr Wis- sen Engel beherberget.
Anmerckungen.
1. Da vorher die Bruder-Liebe anbe- fohlen war, so wird darauf der Gastfreyheit gedacht, durch welche sie insonderheit ausgeü- bet wird: und zwar auf eine solche thätliche Art, welche dem fremden Bruder recht erquicklich ist. Die aber auch nicht ohne Beschwerung war, und daher leichtlich vergessen, das ist, versäumet werden konte. Dagegen nun des Apostels Er- innerung gerichtet ist.
[Spaltenumbruch]
2. Man muß bey der Gastfreyheit auf die damaligen Zeiten sehen, da es ofte geschahe, daß manche Christen allerhand Drangsal wegen diesen und jenen Ort verlassen und einen andern suchen müssen. Da sie sich denn gern dahin wendeten, wo sie gläubige Mitglieder funden. Weil nun diese ihre Zuflucht zu den Heyden, o- der Juden nicht nehmen konnten, so musten sie dieselbe bey den Christen suchen und finden. Und demnach war es der Christen Pflicht, solche Exulanten in Liebe aufzunehmen und ihnen güt- lich zu thun.
3. Es ist aber leichtlich zu erachten, daß wenn der Apostel die Gastfreyheit recommen- diret, er eigentlich damit gemeinet habe, daß man hie und da, wo gantze Gemeinen sind, ge- wisse Anstalt dazu machen, und solche unterhal- ten solte, damit fremde könnten verpfleget wer- den: dabey es doch freylich eines ieglichen sei- ner Liebe insonderheit heimgestellet geblieben ist, ob und was er dißfals für sich thun könnte, oder wolte. Da denn nichts war, das einen mehr zu dieser Liebes-Pflicht antreiben konnte, als die Erwegung einer wohlgeordneten Liebe gegen uns selbst nach der Regel Christi: Alles, was ihr wollet, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen. Matth. 7, 12.
4. Und nach eben dieser Regel hatten denn auch solche Ankömmlinge die Wohlthat der wil- ligen Aufnahme anzunehmen und zu gebrauchen: nemlich daß sie sich vergnüglich, bescheidentlich und danckbar erwiesen, auch suchten, so viel möglich war, ihr Brodt selbst zu verdienen und andere der Last zu überheben, oder sie ihnen doch zu erleichtern.
5. Es wäre zu wünschen, daß noch heute zu ta- ge aller Orten, sonderlich an solchen, wohin die vom Reiche des Pabstthums gedruckte vor an- dern leichtlich ihre Zuflucht nehmen können, von der Christlichen Obrigkeit öffentliche Anstalt zur Gastfreyheit gemachet würde: und zwar eine solche, da solche Leute, wie auch die getaufte Ju- den, zu gewisser ihnen nicht unanständiger Ar- beit angehalten, und unter genugsamer Aussicht geprüfet würden, ob sie rechter Art wären, oder nicht. Da denn manche, so nur faule und leicht- sinnige Landstreicher sind, aus solcher Ver- pflegung könten in die Zuchthäuser gebracht wer- den.
6. Mit den Worten, daß etliche ohne ihr Wissen Engel beherberget, siehet der Apostel ohne Zweifel auf die Exempel Abra- hams und Lots 1 B. Mos. 18. und 19. Und ob gleich der Sohn GOttes selbst der dritte unter den Gästen Abrahams war; so wuste er es doch anfangs so eigentlich nicht; und ob er wol dar- unter bald den Meßiam erkannt hat; so hat er doch die beyden andern wol für blosse ehrwürdi- ge Menschen angesehen: und Lot noch viel- mehr, als der es nur mit diesen allein zu thun hatte.
7. Hat man nun gleich heute zu tage nicht zu vermuthen, daß man einen wircklichen En- gel werde aufnehmen, so kan einen doch dieses genugsam zur Gastfreyheit bewegen, daß man
7. Der beſondere Nutze, welchen ange- fochtene Seelen aus der Bruderliebe haben, iſt dieſer, daß ſie daraus von ihrer Kindſchaft bey GOTT koͤnnen eine uͤberzeugende Verſiche- rung haben. Denn ich verſtehe ſolche ange- fochtene und furchtſame Seelen, welche an ih- rem Gnaden-Stande, darinn ſie doch wircklich ſtehen, zweifeln, und ſich daher ſehr aͤngſtigen und beunruhigen. Dieſe duͤrfen ſich nur gewiſ- ſe ihnen wohlbekannte gottſelige Seelen vor- ſtellen, und ſich unterſuchen, ob ſie nicht eine gehoͤrige Hochachtung und eine zarte Zuneigung gegen ihnen in ſich finden, alſo daß ſie ſich uͤber ihren Umgang freuen; hingegen aber von der Geſellſchaft der eitlen Welt-Menſchen eine heimliche Abkehrung in ſich befinden? Jſt es nun dem alſo, wohlan! ſo iſt ein gewiſſes Kennzei- chen des Gnaden-Standes vorhanden, da nem- lich ein Kind GOttes das andere liebet. Die- ſes Kennzeichen weiſet uns Johannes an, wenn er Ep. 1. c. 3, 14. ſpricht: Wir wiſſen, daß wir aus dem Tode ins Leben kommen ſind: Denn wir lieben die Bruͤder: Wer den Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode.
8. Der allernachdruͤcklichſte Spruch, den wir von der Bruder-Liebe in der heiligen Schrift haben, iſt dieſer 1 Pet. 1, 22. 23. Ma- chet keuſch eure Seelen im Gehorſam der Wahrheit durch den Geiſt zu ungefaͤrbter Bruder-Liebe, und habet euch unter ein- ander bruͤnſtig lieb aus reinem Hertzen; als die da wiederum geboren ſind, nicht aus vergaͤnglichen, ſondern aus unvergaͤng- lichen Samen, nemlich aus dem lebendi- gen Worte GOttes, das da ewig bleibet. Denn alhier wird uns angezeiget der wahren Bruder-Liebe Grund, die Wiedergeburt, und alſo auch die gemeinſchaftliche Kindſchaft aus GOtt: Ferner die darzu erfoderte Keuſchma- chung, oder Heiligung und Reinigung des Hertzens, daß man nicht eine unlautere Natur- Liebe fuͤr die wahre Bruder-Liebe anſehe, oder ſich ſolche einſchleiche: nicht weniger auch die eigentliche Beſchaffenheit, daß ſie ſeyn ſoll ungefaͤrbt und bruͤnſtig. Jm uͤbrigen hat man hiebey auch folgende Oerter zu conferi- ren: Roͤm. 7, 10. 1 Theſſ. 4, 9. 1 Petr. 3, 8. 2 Petr. 1, 8.
V. 2.
Gaſtfrey zu ſeyn vergeſſet nicht: denn durch daſſelbe haben etliche ohne ihr Wiſ- ſen Engel beherberget.
Anmerckungen.
1. Da vorher die Bruder-Liebe anbe- fohlen war, ſo wird darauf der Gaſtfreyheit gedacht, durch welche ſie inſonderheit ausgeuͤ- bet wird: und zwar auf eine ſolche thaͤtliche Art, welche dem fremden Bruder recht erquicklich iſt. Die aber auch nicht ohne Beſchwerung war, und daher leichtlich vergeſſen, das iſt, verſaͤumet werden konte. Dagegen nun des Apoſtels Er- innerung gerichtet iſt.
[Spaltenumbruch]
2. Man muß bey der Gaſtfreyheit auf die damaligen Zeiten ſehen, da es ofte geſchahe, daß manche Chriſten allerhand Drangſal wegen dieſen und jenen Ort verlaſſen und einen andern ſuchen muͤſſen. Da ſie ſich denn gern dahin wendeten, wo ſie glaͤubige Mitglieder funden. Weil nun dieſe ihre Zuflucht zu den Heyden, o- der Juden nicht nehmen konnten, ſo muſten ſie dieſelbe bey den Chriſten ſuchen und finden. Und demnach war es der Chriſten Pflicht, ſolche Exulanten in Liebe aufzunehmen und ihnen guͤt- lich zu thun.
3. Es iſt aber leichtlich zu erachten, daß wenn der Apoſtel die Gaſtfreyheit recommen- diret, er eigentlich damit gemeinet habe, daß man hie und da, wo gantze Gemeinen ſind, ge- wiſſe Anſtalt dazu machen, und ſolche unterhal- ten ſolte, damit fremde koͤnnten verpfleget wer- den: dabey es doch freylich eines ieglichen ſei- ner Liebe inſonderheit heimgeſtellet geblieben iſt, ob und was er dißfals fuͤr ſich thun koͤnnte, oder wolte. Da denn nichts war, das einen mehr zu dieſer Liebes-Pflicht antreiben konnte, als die Erwegung einer wohlgeordneten Liebe gegen uns ſelbſt nach der Regel Chriſti: Alles, was ihr wollet, daß euch die Leute thun ſollen, das thut ihr ihnen. Matth. 7, 12.
4. Und nach eben dieſer Regel hatten denn auch ſolche Ankoͤmmlinge die Wohlthat der wil- ligen Aufnahme anzunehmen und zu gebrauchen: nemlich daß ſie ſich vergnuͤglich, beſcheidentlich und danckbar erwieſen, auch ſuchten, ſo viel moͤglich war, ihr Brodt ſelbſt zu verdienen und andere der Laſt zu uͤberheben, oder ſie ihnen doch zu erleichtern.
5. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß noch heute zu ta- ge aller Orten, ſonderlich an ſolchen, wohin die vom Reiche des Pabſtthums gedruckte vor an- dern leichtlich ihre Zuflucht nehmen koͤnnen, von der Chriſtlichen Obrigkeit oͤffentliche Anſtalt zur Gaſtfreyheit gemachet wuͤrde: und zwar eine ſolche, da ſolche Leute, wie auch die getaufte Ju- den, zu gewiſſer ihnen nicht unanſtaͤndiger Ar- beit angehalten, und unter genugſamer Auſſicht gepruͤfet wuͤrden, ob ſie rechter Art waͤren, oder nicht. Da denn manche, ſo nur faule und leicht- ſinnige Landſtreicher ſind, aus ſolcher Ver- pflegung koͤnten in die Zuchthaͤuſer gebracht wer- den.
6. Mit den Worten, daß etliche ohne ihr Wiſſen Engel beherberget, ſiehet der Apoſtel ohne Zweifel auf die Exempel Abra- hams und Lots 1 B. Moſ. 18. und 19. Und ob gleich der Sohn GOttes ſelbſt der dritte unter den Gaͤſten Abrahams war; ſo wuſte er es doch anfangs ſo eigentlich nicht; und ob er wol dar- unter bald den Meßiam erkannt hat; ſo hat er doch die beyden andern wol fuͤr bloſſe ehrwuͤrdi- ge Menſchen angeſehen: und Lot noch viel- mehr, als der es nur mit dieſen allein zu thun hatte.
7. Hat man nun gleich heute zu tage nicht zu vermuthen, daß man einen wircklichen En- gel werde aufnehmen, ſo kan einen doch dieſes genugſam zur Gaſtfreyheit bewegen, daß man
einen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0410"n="408"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Erklaͤrung des Briefes Pauli Cap. 13. v. 1. 2.</hi></fw><lb/><cb/><hirendition="#fr">derliche Liebe,</hi>μενέτω<hirendition="#fr">ſoll veſt bleiben,</hi> ja<lb/>μένει, <hirendition="#fr">ſie bleibet veſt.</hi></p><lb/><p>7. Der <hirendition="#fr">beſondere Nutze,</hi> welchen ange-<lb/>
fochtene Seelen aus der Bruderliebe haben, iſt<lb/>
dieſer, daß ſie daraus von ihrer <hirendition="#fr">Kindſchaft</hi> bey<lb/>
GOTT koͤnnen eine <hirendition="#fr">uͤberzeugende Verſiche-<lb/>
rung</hi> haben. Denn ich verſtehe ſolche ange-<lb/>
fochtene und furchtſame Seelen, welche an ih-<lb/>
rem Gnaden-Stande, darinn ſie doch wircklich<lb/>ſtehen, zweifeln, und ſich daher ſehr aͤngſtigen<lb/>
und beunruhigen. Dieſe duͤrfen ſich nur gewiſ-<lb/>ſe ihnen wohlbekannte gottſelige Seelen vor-<lb/>ſtellen, und ſich unterſuchen, ob ſie nicht eine<lb/>
gehoͤrige Hochachtung und eine zarte Zuneigung<lb/>
gegen ihnen in ſich finden, alſo daß ſie ſich uͤber<lb/>
ihren Umgang freuen; hingegen aber von der<lb/>
Geſellſchaft der eitlen Welt-Menſchen eine<lb/>
heimliche Abkehrung in ſich befinden? Jſt es nun<lb/>
dem alſo, wohlan! ſo iſt ein gewiſſes Kennzei-<lb/>
chen des Gnaden-Standes vorhanden, da nem-<lb/>
lich ein Kind GOttes das andere liebet. Die-<lb/>ſes Kennzeichen weiſet uns Johannes an, wenn<lb/>
er Ep. 1. c. 3, 14. ſpricht: <hirendition="#fr">Wir wiſſen, daß wir<lb/>
aus dem Tode ins Leben kommen ſind:<lb/>
Denn wir lieben die Bruͤder: Wer den<lb/>
Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode.</hi></p><lb/><p>8. Der <hirendition="#fr">allernachdruͤcklichſte Spruch,</hi><lb/>
den wir von der Bruder-Liebe in der heiligen<lb/>
Schrift haben, iſt dieſer 1 Pet. 1, 22. 23. <hirendition="#fr">Ma-<lb/>
chet keuſch eure Seelen im Gehorſam der<lb/>
Wahrheit durch den Geiſt zu ungefaͤrbter<lb/>
Bruder-Liebe, und habet euch unter ein-<lb/>
ander bruͤnſtig lieb aus reinem Hertzen;<lb/>
als die da wiederum geboren ſind, nicht<lb/>
aus vergaͤnglichen, ſondern aus unvergaͤng-<lb/>
lichen Samen, nemlich aus dem lebendi-<lb/>
gen Worte GOttes, das da ewig bleibet.</hi><lb/>
Denn alhier wird uns angezeiget der wahren<lb/>
Bruder-Liebe <hirendition="#fr">Grund,</hi> die Wiedergeburt, und<lb/>
alſo auch die gemeinſchaftliche Kindſchaft aus<lb/>
GOtt: Ferner die darzu erfoderte <hirendition="#fr">Keuſchma-<lb/>
chung,</hi> oder <hirendition="#fr">Heiligung</hi> und <hirendition="#fr">Reinigung des<lb/>
Hertzens,</hi> daß man nicht eine unlautere Natur-<lb/>
Liebe fuͤr die wahre Bruder-Liebe anſehe, oder<lb/>ſich ſolche einſchleiche: nicht weniger auch die<lb/>
eigentliche <hirendition="#fr">Beſchaffenheit,</hi> daß ſie ſeyn ſoll<lb/><hirendition="#fr">ungefaͤrbt</hi> und <hirendition="#fr">bruͤnſtig.</hi> Jm uͤbrigen hat<lb/>
man hiebey auch folgende Oerter zu <hirendition="#aq">conferi-<lb/>
r</hi>en: Roͤm. 7, 10. 1 Theſſ. 4, 9. 1 Petr. 3, 8.<lb/>
2 Petr. 1, 8.</p></div></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">V. 2.</hi></head><lb/><p><hirendition="#fr">Gaſtfrey zu ſeyn vergeſſet nicht: denn<lb/>
durch daſſelbe haben etliche ohne ihr Wiſ-<lb/>ſen Engel beherberget.</hi></p><lb/><divn="4"><head><hirendition="#b">Anmerckungen.</hi></head><lb/><p>1. Da vorher die <hirendition="#fr">Bruder-Liebe</hi> anbe-<lb/>
fohlen war, ſo wird darauf der <hirendition="#fr">Gaſtfreyheit</hi><lb/>
gedacht, durch welche ſie inſonderheit ausgeuͤ-<lb/>
bet wird: und zwar auf eine ſolche thaͤtliche Art,<lb/>
welche dem fremden Bruder recht erquicklich iſt.<lb/>
Die aber auch nicht ohne Beſchwerung war, und<lb/>
daher leichtlich vergeſſen, das iſt, verſaͤumet<lb/>
werden konte. Dagegen nun des Apoſtels Er-<lb/>
innerung gerichtet iſt.</p><lb/><cb/><p>2. Man muß bey der Gaſtfreyheit auf die<lb/><hirendition="#fr">damaligen Zeiten</hi>ſehen, da es ofte geſchahe,<lb/>
daß manche Chriſten allerhand Drangſal wegen<lb/>
dieſen und jenen Ort verlaſſen und einen andern<lb/>ſuchen muͤſſen. Da ſie ſich denn gern dahin<lb/>
wendeten, wo ſie glaͤubige Mitglieder funden.<lb/>
Weil nun dieſe ihre Zuflucht zu den Heyden, o-<lb/>
der Juden nicht nehmen konnten, ſo muſten ſie<lb/>
dieſelbe bey den Chriſten ſuchen und finden.<lb/>
Und demnach war es der Chriſten Pflicht, ſolche<lb/><hirendition="#aq">Exulant</hi>en in Liebe aufzunehmen und ihnen guͤt-<lb/>
lich zu thun.</p><lb/><p>3. Es iſt aber leichtlich zu erachten, daß<lb/>
wenn der Apoſtel die Gaſtfreyheit <hirendition="#aq">recommen-<lb/>
dir</hi>et, er eigentlich damit gemeinet habe, daß<lb/>
man hie und da, wo gantze Gemeinen ſind, ge-<lb/>
wiſſe Anſtalt dazu machen, und ſolche unterhal-<lb/>
ten ſolte, damit fremde koͤnnten verpfleget wer-<lb/>
den: dabey es doch freylich eines ieglichen ſei-<lb/>
ner Liebe inſonderheit heimgeſtellet geblieben iſt,<lb/>
ob und was er dißfals fuͤr ſich thun koͤnnte, oder<lb/>
wolte. Da denn nichts war, das einen mehr zu<lb/>
dieſer Liebes-Pflicht antreiben konnte, als die<lb/>
Erwegung einer wohlgeordneten Liebe gegen<lb/>
uns ſelbſt nach der Regel Chriſti: <hirendition="#fr">Alles, was<lb/>
ihr wollet, daß euch die Leute thun ſollen,<lb/>
das thut ihr ihnen.</hi> Matth. 7, 12.</p><lb/><p>4. Und nach eben dieſer Regel hatten denn<lb/>
auch ſolche Ankoͤmmlinge die Wohlthat der wil-<lb/>
ligen Aufnahme anzunehmen und zu gebrauchen:<lb/>
nemlich daß ſie ſich vergnuͤglich, beſcheidentlich<lb/>
und danckbar erwieſen, auch ſuchten, ſo viel<lb/>
moͤglich war, ihr Brodt ſelbſt zu verdienen und<lb/>
andere der Laſt zu uͤberheben, oder ſie ihnen doch<lb/>
zu erleichtern.</p><lb/><p>5. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß noch heute zu ta-<lb/>
ge aller Orten, ſonderlich an ſolchen, wohin die<lb/>
vom Reiche des Pabſtthums gedruckte vor an-<lb/>
dern leichtlich ihre Zuflucht nehmen koͤnnen, von<lb/>
der Chriſtlichen Obrigkeit oͤffentliche Anſtalt zur<lb/>
Gaſtfreyheit gemachet wuͤrde: und zwar eine<lb/>ſolche, da ſolche Leute, wie auch die getaufte Ju-<lb/>
den, zu gewiſſer ihnen nicht unanſtaͤndiger Ar-<lb/>
beit angehalten, und unter genugſamer Auſſicht<lb/>
gepruͤfet wuͤrden, ob ſie rechter Art waͤren, oder<lb/>
nicht. Da denn manche, ſo nur faule und leicht-<lb/>ſinnige Landſtreicher ſind, aus ſolcher Ver-<lb/>
pflegung koͤnten in die Zuchthaͤuſer gebracht wer-<lb/>
den.</p><lb/><p>6. Mit den Worten, daß <hirendition="#fr">etliche ohne<lb/>
ihr Wiſſen Engel beherberget,</hi>ſiehet der<lb/>
Apoſtel ohne Zweifel auf die Exempel <hirendition="#fr">Abra-<lb/>
hams</hi> und <hirendition="#fr">Lots</hi> 1 B. Moſ. 18. und 19. Und ob<lb/>
gleich der Sohn GOttes ſelbſt der dritte unter<lb/>
den Gaͤſten Abrahams war; ſo wuſte er es doch<lb/>
anfangs ſo eigentlich nicht; und ob er wol dar-<lb/>
unter bald den Meßiam erkannt hat; ſo hat er<lb/>
doch die beyden andern wol fuͤr bloſſe ehrwuͤrdi-<lb/>
ge Menſchen angeſehen: und Lot noch viel-<lb/>
mehr, als der es nur mit dieſen allein zu thun<lb/>
hatte.</p><lb/><p>7. Hat man nun gleich heute zu tage nicht<lb/>
zu vermuthen, daß man einen wircklichen En-<lb/>
gel werde aufnehmen, ſo kan einen doch dieſes<lb/>
genugſam zur Gaſtfreyheit bewegen, daß man<lb/><fwplace="bottom"type="catch">einen</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[408/0410]
Erklaͤrung des Briefes Pauli Cap. 13. v. 1. 2.
derliche Liebe, μενέτω ſoll veſt bleiben, ja
μένει, ſie bleibet veſt.
7. Der beſondere Nutze, welchen ange-
fochtene Seelen aus der Bruderliebe haben, iſt
dieſer, daß ſie daraus von ihrer Kindſchaft bey
GOTT koͤnnen eine uͤberzeugende Verſiche-
rung haben. Denn ich verſtehe ſolche ange-
fochtene und furchtſame Seelen, welche an ih-
rem Gnaden-Stande, darinn ſie doch wircklich
ſtehen, zweifeln, und ſich daher ſehr aͤngſtigen
und beunruhigen. Dieſe duͤrfen ſich nur gewiſ-
ſe ihnen wohlbekannte gottſelige Seelen vor-
ſtellen, und ſich unterſuchen, ob ſie nicht eine
gehoͤrige Hochachtung und eine zarte Zuneigung
gegen ihnen in ſich finden, alſo daß ſie ſich uͤber
ihren Umgang freuen; hingegen aber von der
Geſellſchaft der eitlen Welt-Menſchen eine
heimliche Abkehrung in ſich befinden? Jſt es nun
dem alſo, wohlan! ſo iſt ein gewiſſes Kennzei-
chen des Gnaden-Standes vorhanden, da nem-
lich ein Kind GOttes das andere liebet. Die-
ſes Kennzeichen weiſet uns Johannes an, wenn
er Ep. 1. c. 3, 14. ſpricht: Wir wiſſen, daß wir
aus dem Tode ins Leben kommen ſind:
Denn wir lieben die Bruͤder: Wer den
Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode.
8. Der allernachdruͤcklichſte Spruch,
den wir von der Bruder-Liebe in der heiligen
Schrift haben, iſt dieſer 1 Pet. 1, 22. 23. Ma-
chet keuſch eure Seelen im Gehorſam der
Wahrheit durch den Geiſt zu ungefaͤrbter
Bruder-Liebe, und habet euch unter ein-
ander bruͤnſtig lieb aus reinem Hertzen;
als die da wiederum geboren ſind, nicht
aus vergaͤnglichen, ſondern aus unvergaͤng-
lichen Samen, nemlich aus dem lebendi-
gen Worte GOttes, das da ewig bleibet.
Denn alhier wird uns angezeiget der wahren
Bruder-Liebe Grund, die Wiedergeburt, und
alſo auch die gemeinſchaftliche Kindſchaft aus
GOtt: Ferner die darzu erfoderte Keuſchma-
chung, oder Heiligung und Reinigung des
Hertzens, daß man nicht eine unlautere Natur-
Liebe fuͤr die wahre Bruder-Liebe anſehe, oder
ſich ſolche einſchleiche: nicht weniger auch die
eigentliche Beſchaffenheit, daß ſie ſeyn ſoll
ungefaͤrbt und bruͤnſtig. Jm uͤbrigen hat
man hiebey auch folgende Oerter zu conferi-
ren: Roͤm. 7, 10. 1 Theſſ. 4, 9. 1 Petr. 3, 8.
2 Petr. 1, 8.
V. 2.
Gaſtfrey zu ſeyn vergeſſet nicht: denn
durch daſſelbe haben etliche ohne ihr Wiſ-
ſen Engel beherberget.
Anmerckungen.
1. Da vorher die Bruder-Liebe anbe-
fohlen war, ſo wird darauf der Gaſtfreyheit
gedacht, durch welche ſie inſonderheit ausgeuͤ-
bet wird: und zwar auf eine ſolche thaͤtliche Art,
welche dem fremden Bruder recht erquicklich iſt.
Die aber auch nicht ohne Beſchwerung war, und
daher leichtlich vergeſſen, das iſt, verſaͤumet
werden konte. Dagegen nun des Apoſtels Er-
innerung gerichtet iſt.
2. Man muß bey der Gaſtfreyheit auf die
damaligen Zeiten ſehen, da es ofte geſchahe,
daß manche Chriſten allerhand Drangſal wegen
dieſen und jenen Ort verlaſſen und einen andern
ſuchen muͤſſen. Da ſie ſich denn gern dahin
wendeten, wo ſie glaͤubige Mitglieder funden.
Weil nun dieſe ihre Zuflucht zu den Heyden, o-
der Juden nicht nehmen konnten, ſo muſten ſie
dieſelbe bey den Chriſten ſuchen und finden.
Und demnach war es der Chriſten Pflicht, ſolche
Exulanten in Liebe aufzunehmen und ihnen guͤt-
lich zu thun.
3. Es iſt aber leichtlich zu erachten, daß
wenn der Apoſtel die Gaſtfreyheit recommen-
diret, er eigentlich damit gemeinet habe, daß
man hie und da, wo gantze Gemeinen ſind, ge-
wiſſe Anſtalt dazu machen, und ſolche unterhal-
ten ſolte, damit fremde koͤnnten verpfleget wer-
den: dabey es doch freylich eines ieglichen ſei-
ner Liebe inſonderheit heimgeſtellet geblieben iſt,
ob und was er dißfals fuͤr ſich thun koͤnnte, oder
wolte. Da denn nichts war, das einen mehr zu
dieſer Liebes-Pflicht antreiben konnte, als die
Erwegung einer wohlgeordneten Liebe gegen
uns ſelbſt nach der Regel Chriſti: Alles, was
ihr wollet, daß euch die Leute thun ſollen,
das thut ihr ihnen. Matth. 7, 12.
4. Und nach eben dieſer Regel hatten denn
auch ſolche Ankoͤmmlinge die Wohlthat der wil-
ligen Aufnahme anzunehmen und zu gebrauchen:
nemlich daß ſie ſich vergnuͤglich, beſcheidentlich
und danckbar erwieſen, auch ſuchten, ſo viel
moͤglich war, ihr Brodt ſelbſt zu verdienen und
andere der Laſt zu uͤberheben, oder ſie ihnen doch
zu erleichtern.
5. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß noch heute zu ta-
ge aller Orten, ſonderlich an ſolchen, wohin die
vom Reiche des Pabſtthums gedruckte vor an-
dern leichtlich ihre Zuflucht nehmen koͤnnen, von
der Chriſtlichen Obrigkeit oͤffentliche Anſtalt zur
Gaſtfreyheit gemachet wuͤrde: und zwar eine
ſolche, da ſolche Leute, wie auch die getaufte Ju-
den, zu gewiſſer ihnen nicht unanſtaͤndiger Ar-
beit angehalten, und unter genugſamer Auſſicht
gepruͤfet wuͤrden, ob ſie rechter Art waͤren, oder
nicht. Da denn manche, ſo nur faule und leicht-
ſinnige Landſtreicher ſind, aus ſolcher Ver-
pflegung koͤnten in die Zuchthaͤuſer gebracht wer-
den.
6. Mit den Worten, daß etliche ohne
ihr Wiſſen Engel beherberget, ſiehet der
Apoſtel ohne Zweifel auf die Exempel Abra-
hams und Lots 1 B. Moſ. 18. und 19. Und ob
gleich der Sohn GOttes ſelbſt der dritte unter
den Gaͤſten Abrahams war; ſo wuſte er es doch
anfangs ſo eigentlich nicht; und ob er wol dar-
unter bald den Meßiam erkannt hat; ſo hat er
doch die beyden andern wol fuͤr bloſſe ehrwuͤrdi-
ge Menſchen angeſehen: und Lot noch viel-
mehr, als der es nur mit dieſen allein zu thun
hatte.
7. Hat man nun gleich heute zu tage nicht
zu vermuthen, daß man einen wircklichen En-
gel werde aufnehmen, ſo kan einen doch dieſes
genugſam zur Gaſtfreyheit bewegen, daß man
einen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lange, Joachim: Des Apostolischen Lichts und Rechts. Bd. 2. Halle, 1729, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht02_1729/410>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.