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Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.

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Erklärung des andern Briefs Pauli Cap. 11, v. 15.
[Spaltenumbruch] Leben zum Stande der würcklichen, obgleich
noch sehr unvollkommenen, Seligkeit zu ge-
langen.
6. Gleichwie nun Paulus ein solcher Ev-
angelischer Prediger der Gerechtigkeit war: so
wird es niemand, es sey denn in der Ordnung,
worinnen es Paulus geworden ist, das ist, in der
Ordnung wahrer Bekehrung; da man selbst
fühlet, was Sünde und Ungerechtigkeit ist, und
daher aus dem innern Seelen-Frieden und aus
der Freude des Heiligen Geistes auch empfindet,
was die von Christo uns erworbene Gerechtigkeit
ist, wie sich der Glaube daran hält, und daran,
nebst der innern Kraft zur Heiligung, seine bestän-
dige Nahrung hat.
7. Wer dieses mit Paulo erfahren hat,
der träget die in diesen Worten: Der Glaube
machet gerecht,
oder der Glaube ergreiffet
die Gerchtigkeit Christi,
enthaltene Lehre
also vor, daß er nicht allein das praedicatum, wie
man in Schulen redet, das ist, das Gerecht-
machen,
oder die Gerechtigkeit ergreiffet, und
dabey die Gerechtigkeit Christi selbst recht nach
Würden beschreibet, sondern auch sorgfältig
von dem Subjecto, von dem Glauben, dem die
Ergreiffung der Gerechtigkeit zugeschrieben
wird, handelt, und zeiget, wie desselben Natur
und Wesen eigentlich beschaffen sey, wie er sey
ein geistliches Licht und ein geistliches Leben in
der Seele, in welcher Ordnung, nemlich der
Wiedergeburt, oder gründlichen Bekehrung zu
GOtt man dazu gelange, und wie er, da er in
einem guten Gewissen bewahret wird, in allen
Liebes-Pflichten gegen GOtt, uns selbst, und den
Nächsten sich thätig erweise. Ein solcher Pre-
diger der Gerechtigkeit war Paulus; wie man
aus seinen Briefen siehet. Und auf solche Art
predigen auch alle seine wahren Nachfolger die
Evangelische Glaubens- und Lebens-Gerech-
tigkeit.
8. Aber leider hieran fehlet es gar sehr;
und zwar erstlich der Christlichen Kirche über-
haupt, und sonderlich unter den Papisten, da
Christus nach seinem Mittler-Amte, und unter
den Socinianern, da er zugleich auch nach sei-
ner Person nicht recht erkant und verkündiget
wird, und bey welchen die wahre Glaubens-Ge-
rechtigkeit eine gantz unbekannte Sache ist.
Hernach fehlet es daran auch leider in der Evan-
gelischen Kirche, und also unter denen, welchen
der selige Lutherus dieses alte Kleinod der Evan-
gelischen Lehre gleichsam, als aus einem
tiefen Brunnen, darinnen es vergraben lag,
nemlich aus dem göttlichen Worte, wieder her-
vorgezogen, und als erneuert in seinem vorigen
apostolischen Glantze dargestellet hat.
9. Daß es auch unter uns Evangelischen
gar sehr daran fehle, gebrauchet keines vielen
Beweises; wiewol es gar wenig erkant wird.
Denn wie rar sind nicht solche Lehrer, welche mit
Paulo zu GOtt bekehret worden? solche, die die
hinlängliche Kennzeichen von ihrem Gnaden-
Stande bey sich haben, und solche in ihrem Leben
auch andern nach der Wahrheit zeigen? sol-
che, die wissen, wie sie selbst zur wahren Glau-
bens-Gerechtgkeit gelanget, und was sie nach
[Spaltenumbruch] eigner Erfahrung, ohne eitele Einbildung, daran
haben? denn welche in dieser Erfahrung und
derselben nach dem göttlichen Worte gemässen
Erkäntniß nicht stehen, die haben, in so fern sie
sich nach ihrem eigenen Begriff, den sie sich
aus bloß natürlichen Kräften von der Sache
gemachet haben, unter andern sonderlich folgen-
de grosse Unrichtigkeit ihres Vortrages: Sie
gehen entweder nur auf eine gesetzliche Art auf die
Heiligung, und setzen die Gnade der Rechtferti-
gung dabey aus den Augen. Oder sie treiben
zwar die Lehre von der Rechtfertigung; aber mit
Hindansetzung der Lehre von der Heiligung.
Welcher Abweg noch viel gemeiner ist, als jener.
Und wenn sie auch gleich auf die Heiligung drin-
gen, so findet sich doch bey dem Vortrage ein
vielfacher sehr grosser Haupt-Fehler: Nemlich
a) sie legen den Grund zur Heiligung nicht in der
wahren Aenderung des Hertzens, oder Wieder-
geburt, und führen also ihre Zuhörer so zu sagen
auf den schmalen Weg (wie er zum wenigsten ih-
rer Meynung nach sein soll) ohn die enge Pforte
passiret zu haben: und also halten sie diejenigen
schon für gläubig und bekehrt, die es doch nicht
sind. Daher denn kömmt, daß sie von Lahmen
und Blinden das gehen und sehen, ja von den
Todten das Leben, das ist, von den unbekehrten
Menschen die Christliche Lebens-Pflichten for-
dern, und also in der That auf eine gewisse Art
des Pelagianismi führen. Sie lassen es bey der
Heiligung, wo nicht gantz und gar, doch grösten-
theils aufs äussere ankommen, also, daß auf die
innere wahre Hertzens-Tugenden fast gar nicht
gesehen wird; dagegen man denn äusserliche
Bezeigungen, so nur blosse Natur-Wercke sind,
für Früchte des Geistes gelten läßt. Man ver-
kehret die wahre Freyheit des Geistes in eine sol-
che Licentz, nach welcher man wohl befugt seyn
soll, allerley Thorheit und Eitelkeit der Welt,
und unter denselben sonderlich die eiteln Spiel-
und Tantz-Lüste beyzubehalten, und immer mit
zu machen: Auf welche Art denn diese Flei-
sches-Wercke mit den vermeinten guten Wer-
cken wohl bestehen sollen, auch da sie nichts tau-
gen, in der That bestehen können. Man ver-
theidiget auch noch wol andere Sätze, welche al-
le wahre Heiligung über einen Haufen werfen:
z. E. Man beziehet sich immer auf die mensch-
liche Schwachheit,
und setzet diese auch wol
dem ersten Anfange des rechtschafnen Christen-
thums entgegen. Man mißbrauchet dazu viele
Sprüche und Exempel der heiligen Schrift.
Man leugnet, daß es möglich sey, daß sich ein
wahrer Christe beständig vor muthwilligen und
vorsetzlichen Sünden hüten könne, oder daß ie-
mals ein eintziger gewesen, der bis an sein seliges
Ende im Guten also beharret sey, daß er sich da-
vor gehütet habe. Was man mit der einen
Predigt, vermöge der buchstäblichen Erkäntniß,
oder eines guten Buches, gebauet, reisset man
mit der andern wieder nieder. Ja man wider-
spricht sich auch wol in einer Predigt, und das
mehr als einmal, womit man das mit Recht be-
jahete selbst wieder entkräftet. Und dazu kömmt
bey manchen noch dieses, daß sie den richtigsten
Kern- und Kraft-Wahrheiten, die zum recht-
schaf-
Erklaͤrung des andern Briefs Pauli Cap. 11, v. 15.
[Spaltenumbruch] Leben zum Stande der wuͤrcklichen, obgleich
noch ſehr unvollkommenen, Seligkeit zu ge-
langen.
6. Gleichwie nun Paulus ein ſolcher Ev-
angeliſcher Prediger der Gerechtigkeit war: ſo
wird es niemand, es ſey denn in der Ordnung,
worinnen es Paulus geworden iſt, das iſt, in der
Ordnung wahrer Bekehrung; da man ſelbſt
fuͤhlet, was Suͤnde und Ungerechtigkeit iſt, und
daher aus dem innern Seelen-Frieden und aus
der Freude des Heiligen Geiſtes auch empfindet,
was die von Chriſto uns erworbene Gerechtigkeit
iſt, wie ſich der Glaube daran haͤlt, und daran,
nebſt der innern Kraft zur Heiligung, ſeine beſtaͤn-
dige Nahrung hat.
7. Wer dieſes mit Paulo erfahren hat,
der traͤget die in dieſen Worten: Der Glaube
machet gerecht,
oder der Glaube ergreiffet
die Gerchtigkeit Chriſti,
enthaltene Lehre
alſo vor, daß er nicht allein das prædicatum, wie
man in Schulen redet, das iſt, das Gerecht-
machen,
oder die Gerechtigkeit ergreiffet, und
dabey die Gerechtigkeit Chriſti ſelbſt recht nach
Wuͤrden beſchreibet, ſondern auch ſorgfaͤltig
von dem Subjecto, von dem Glauben, dem die
Ergreiffung der Gerechtigkeit zugeſchrieben
wird, handelt, und zeiget, wie deſſelben Natur
und Weſen eigentlich beſchaffen ſey, wie er ſey
ein geiſtliches Licht und ein geiſtliches Leben in
der Seele, in welcher Ordnung, nemlich der
Wiedergeburt, oder gruͤndlichen Bekehrung zu
GOtt man dazu gelange, und wie er, da er in
einem guten Gewiſſen bewahret wird, in allen
Liebes-Pflichten gegen GOtt, uns ſelbſt, und den
Naͤchſten ſich thaͤtig erweiſe. Ein ſolcher Pre-
diger der Gerechtigkeit war Paulus; wie man
aus ſeinen Briefen ſiehet. Und auf ſolche Art
predigen auch alle ſeine wahren Nachfolger die
Evangeliſche Glaubens- und Lebens-Gerech-
tigkeit.
8. Aber leider hieran fehlet es gar ſehr;
und zwar erſtlich der Chriſtlichen Kirche uͤber-
haupt, und ſonderlich unter den Papiſten, da
Chriſtus nach ſeinem Mittler-Amte, und unter
den Socinianern, da er zugleich auch nach ſei-
ner Perſon nicht recht erkant und verkuͤndiget
wird, und bey welchen die wahre Glaubens-Ge-
rechtigkeit eine gantz unbekannte Sache iſt.
Hernach fehlet es daran auch leider in der Evan-
geliſchen Kirche, und alſo unter denen, welchen
der ſelige Lutherus dieſes alte Kleinod der Evan-
geliſchen Lehre gleichſam, als aus einem
tiefen Brunnen, darinnen es vergraben lag,
nemlich aus dem goͤttlichen Worte, wieder her-
vorgezogen, und als erneuert in ſeinem vorigen
apoſtoliſchen Glantze dargeſtellet hat.
9. Daß es auch unter uns Evangeliſchen
gar ſehr daran fehle, gebrauchet keines vielen
Beweiſes; wiewol es gar wenig erkant wird.
Denn wie rar ſind nicht ſolche Lehrer, welche mit
Paulo zu GOtt bekehret worden? ſolche, die die
hinlaͤngliche Kennzeichen von ihrem Gnaden-
Stande bey ſich haben, und ſolche in ihrem Leben
auch andern nach der Wahrheit zeigen? ſol-
che, die wiſſen, wie ſie ſelbſt zur wahren Glau-
bens-Gerechtgkeit gelanget, und was ſie nach
[Spaltenumbruch] eigner Erfahrung, ohne eitele Einbildung, daran
haben? denn welche in dieſer Erfahrung und
derſelben nach dem goͤttlichen Worte gemaͤſſen
Erkaͤntniß nicht ſtehen, die haben, in ſo fern ſie
ſich nach ihrem eigenen Begriff, den ſie ſich
aus bloß natuͤrlichen Kraͤften von der Sache
gemachet haben, unter andern ſonderlich folgen-
de groſſe Unrichtigkeit ihres Vortrages: Sie
gehen entweder nur auf eine geſetzliche Art auf die
Heiligung, und ſetzen die Gnade der Rechtferti-
gung dabey aus den Augen. Oder ſie treiben
zwar die Lehre von der Rechtfertigung; aber mit
Hindanſetzung der Lehre von der Heiligung.
Welcher Abweg noch viel gemeiner iſt, als jener.
Und wenn ſie auch gleich auf die Heiligung drin-
gen, ſo findet ſich doch bey dem Vortrage ein
vielfacher ſehr groſſer Haupt-Fehler: Nemlich
α) ſie legen den Grund zur Heiligung nicht in der
wahren Aenderung des Hertzens, oder Wieder-
geburt, und fuͤhren alſo ihre Zuhoͤrer ſo zu ſagen
auf den ſchmalen Weg (wie er zum wenigſten ih-
rer Meynung nach ſein ſoll) ohn die enge Pforte
paſſiret zu haben: und alſo halten ſie diejenigen
ſchon fuͤr glaͤubig und bekehrt, die es doch nicht
ſind. Daher denn koͤmmt, daß ſie von Lahmen
und Blinden das gehen und ſehen, ja von den
Todten das Leben, das iſt, von den unbekehrten
Menſchen die Chriſtliche Lebens-Pflichten for-
dern, und alſo in der That auf eine gewiſſe Art
des Pelagianiſmi fuͤhren. Sie laſſen es bey der
Heiligung, wo nicht gantz und gar, doch groͤſten-
theils aufs aͤuſſere ankommen, alſo, daß auf die
innere wahre Hertzens-Tugenden faſt gar nicht
geſehen wird; dagegen man denn aͤuſſerliche
Bezeigungen, ſo nur bloſſe Natur-Wercke ſind,
fuͤr Fruͤchte des Geiſtes gelten laͤßt. Man ver-
kehret die wahre Freyheit des Geiſtes in eine ſol-
che Licentz, nach welcher man wohl befugt ſeyn
ſoll, allerley Thorheit und Eitelkeit der Welt,
und unter denſelben ſonderlich die eiteln Spiel-
und Tantz-Luͤſte beyzubehalten, und immer mit
zu machen: Auf welche Art denn dieſe Flei-
ſches-Wercke mit den vermeinten guten Wer-
cken wohl beſtehen ſollen, auch da ſie nichts tau-
gen, in der That beſtehen koͤnnen. Man ver-
theidiget auch noch wol andere Saͤtze, welche al-
le wahre Heiligung uͤber einen Haufen werfen:
z. E. Man beziehet ſich immer auf die menſch-
liche Schwachheit,
und ſetzet dieſe auch wol
dem erſten Anfange des rechtſchafnen Chriſten-
thums entgegen. Man mißbrauchet dazu viele
Spruͤche und Exempel der heiligen Schrift.
Man leugnet, daß es moͤglich ſey, daß ſich ein
wahrer Chriſte beſtaͤndig vor muthwilligen und
vorſetzlichen Suͤnden huͤten koͤnne, oder daß ie-
mals ein eintziger geweſen, der bis an ſein ſeliges
Ende im Guten alſo beharret ſey, daß er ſich da-
vor gehuͤtet habe. Was man mit der einen
Predigt, vermoͤge der buchſtaͤblichen Erkaͤntniß,
oder eines guten Buches, gebauet, reiſſet man
mit der andern wieder nieder. Ja man wider-
ſpricht ſich auch wol in einer Predigt, und das
mehr als einmal, womit man das mit Recht be-
jahete ſelbſt wieder entkraͤftet. Und dazu koͤmmt
bey manchen noch dieſes, daß ſie den richtigſten
Kern- und Kraft-Wahrheiten, die zum recht-
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[448/0476] Erklaͤrung des andern Briefs Pauli Cap. 11, v. 15. Leben zum Stande der wuͤrcklichen, obgleich noch ſehr unvollkommenen, Seligkeit zu ge- langen. 6. Gleichwie nun Paulus ein ſolcher Ev- angeliſcher Prediger der Gerechtigkeit war: ſo wird es niemand, es ſey denn in der Ordnung, worinnen es Paulus geworden iſt, das iſt, in der Ordnung wahrer Bekehrung; da man ſelbſt fuͤhlet, was Suͤnde und Ungerechtigkeit iſt, und daher aus dem innern Seelen-Frieden und aus der Freude des Heiligen Geiſtes auch empfindet, was die von Chriſto uns erworbene Gerechtigkeit iſt, wie ſich der Glaube daran haͤlt, und daran, nebſt der innern Kraft zur Heiligung, ſeine beſtaͤn- dige Nahrung hat. 7. Wer dieſes mit Paulo erfahren hat, der traͤget die in dieſen Worten: Der Glaube machet gerecht, oder der Glaube ergreiffet die Gerchtigkeit Chriſti, enthaltene Lehre alſo vor, daß er nicht allein das prædicatum, wie man in Schulen redet, das iſt, das Gerecht- machen, oder die Gerechtigkeit ergreiffet, und dabey die Gerechtigkeit Chriſti ſelbſt recht nach Wuͤrden beſchreibet, ſondern auch ſorgfaͤltig von dem Subjecto, von dem Glauben, dem die Ergreiffung der Gerechtigkeit zugeſchrieben wird, handelt, und zeiget, wie deſſelben Natur und Weſen eigentlich beſchaffen ſey, wie er ſey ein geiſtliches Licht und ein geiſtliches Leben in der Seele, in welcher Ordnung, nemlich der Wiedergeburt, oder gruͤndlichen Bekehrung zu GOtt man dazu gelange, und wie er, da er in einem guten Gewiſſen bewahret wird, in allen Liebes-Pflichten gegen GOtt, uns ſelbſt, und den Naͤchſten ſich thaͤtig erweiſe. Ein ſolcher Pre- diger der Gerechtigkeit war Paulus; wie man aus ſeinen Briefen ſiehet. Und auf ſolche Art predigen auch alle ſeine wahren Nachfolger die Evangeliſche Glaubens- und Lebens-Gerech- tigkeit. 8. Aber leider hieran fehlet es gar ſehr; und zwar erſtlich der Chriſtlichen Kirche uͤber- haupt, und ſonderlich unter den Papiſten, da Chriſtus nach ſeinem Mittler-Amte, und unter den Socinianern, da er zugleich auch nach ſei- ner Perſon nicht recht erkant und verkuͤndiget wird, und bey welchen die wahre Glaubens-Ge- rechtigkeit eine gantz unbekannte Sache iſt. Hernach fehlet es daran auch leider in der Evan- geliſchen Kirche, und alſo unter denen, welchen der ſelige Lutherus dieſes alte Kleinod der Evan- geliſchen Lehre gleichſam, als aus einem tiefen Brunnen, darinnen es vergraben lag, nemlich aus dem goͤttlichen Worte, wieder her- vorgezogen, und als erneuert in ſeinem vorigen apoſtoliſchen Glantze dargeſtellet hat. 9. Daß es auch unter uns Evangeliſchen gar ſehr daran fehle, gebrauchet keines vielen Beweiſes; wiewol es gar wenig erkant wird. Denn wie rar ſind nicht ſolche Lehrer, welche mit Paulo zu GOtt bekehret worden? ſolche, die die hinlaͤngliche Kennzeichen von ihrem Gnaden- Stande bey ſich haben, und ſolche in ihrem Leben auch andern nach der Wahrheit zeigen? ſol- che, die wiſſen, wie ſie ſelbſt zur wahren Glau- bens-Gerechtgkeit gelanget, und was ſie nach eigner Erfahrung, ohne eitele Einbildung, daran haben? denn welche in dieſer Erfahrung und derſelben nach dem goͤttlichen Worte gemaͤſſen Erkaͤntniß nicht ſtehen, die haben, in ſo fern ſie ſich nach ihrem eigenen Begriff, den ſie ſich aus bloß natuͤrlichen Kraͤften von der Sache gemachet haben, unter andern ſonderlich folgen- de groſſe Unrichtigkeit ihres Vortrages: Sie gehen entweder nur auf eine geſetzliche Art auf die Heiligung, und ſetzen die Gnade der Rechtferti- gung dabey aus den Augen. Oder ſie treiben zwar die Lehre von der Rechtfertigung; aber mit Hindanſetzung der Lehre von der Heiligung. Welcher Abweg noch viel gemeiner iſt, als jener. Und wenn ſie auch gleich auf die Heiligung drin- gen, ſo findet ſich doch bey dem Vortrage ein vielfacher ſehr groſſer Haupt-Fehler: Nemlich α) ſie legen den Grund zur Heiligung nicht in der wahren Aenderung des Hertzens, oder Wieder- geburt, und fuͤhren alſo ihre Zuhoͤrer ſo zu ſagen auf den ſchmalen Weg (wie er zum wenigſten ih- rer Meynung nach ſein ſoll) ohn die enge Pforte paſſiret zu haben: und alſo halten ſie diejenigen ſchon fuͤr glaͤubig und bekehrt, die es doch nicht ſind. Daher denn koͤmmt, daß ſie von Lahmen und Blinden das gehen und ſehen, ja von den Todten das Leben, das iſt, von den unbekehrten Menſchen die Chriſtliche Lebens-Pflichten for- dern, und alſo in der That auf eine gewiſſe Art des Pelagianiſmi fuͤhren. Sie laſſen es bey der Heiligung, wo nicht gantz und gar, doch groͤſten- theils aufs aͤuſſere ankommen, alſo, daß auf die innere wahre Hertzens-Tugenden faſt gar nicht geſehen wird; dagegen man denn aͤuſſerliche Bezeigungen, ſo nur bloſſe Natur-Wercke ſind, fuͤr Fruͤchte des Geiſtes gelten laͤßt. Man ver- kehret die wahre Freyheit des Geiſtes in eine ſol- che Licentz, nach welcher man wohl befugt ſeyn ſoll, allerley Thorheit und Eitelkeit der Welt, und unter denſelben ſonderlich die eiteln Spiel- und Tantz-Luͤſte beyzubehalten, und immer mit zu machen: Auf welche Art denn dieſe Flei- ſches-Wercke mit den vermeinten guten Wer- cken wohl beſtehen ſollen, auch da ſie nichts tau- gen, in der That beſtehen koͤnnen. Man ver- theidiget auch noch wol andere Saͤtze, welche al- le wahre Heiligung uͤber einen Haufen werfen: z. E. Man beziehet ſich immer auf die menſch- liche Schwachheit, und ſetzet dieſe auch wol dem erſten Anfange des rechtſchafnen Chriſten- thums entgegen. Man mißbrauchet dazu viele Spruͤche und Exempel der heiligen Schrift. Man leugnet, daß es moͤglich ſey, daß ſich ein wahrer Chriſte beſtaͤndig vor muthwilligen und vorſetzlichen Suͤnden huͤten koͤnne, oder daß ie- mals ein eintziger geweſen, der bis an ſein ſeliges Ende im Guten alſo beharret ſey, daß er ſich da- vor gehuͤtet habe. Was man mit der einen Predigt, vermoͤge der buchſtaͤblichen Erkaͤntniß, oder eines guten Buches, gebauet, reiſſet man mit der andern wieder nieder. Ja man wider- ſpricht ſich auch wol in einer Predigt, und das mehr als einmal, womit man das mit Recht be- jahete ſelbſt wieder entkraͤftet. Und dazu koͤmmt bey manchen noch dieſes, daß ſie den richtigſten Kern- und Kraft-Wahrheiten, die zum recht- ſchaf-

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Zitationshilfe: Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht01_1729/476>, abgerufen am 24.11.2024.