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Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904.

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wird -, daß mit der wirtschaftlichen Frauennot, gleichviel, wie sie
beseitigt wird, auch Frauenbewegung und Frauenfrage aus der Welt
geschafft wären, eine Auffassung, aus der heraus man sogar das
drastische Mittel der Zwangsheiraten plausibel zu machen gesucht hat.

Diese Auffassung schaltet die geistigen Ursachen der Bewegung
einfach aus. Wie sehr aber diese Ursachen mitgesprochen haben,
weiß jeder, der die Entwicklung der Frauenbewegung aus dem Ge-
dankenkreis ihrer ersten Vertreter und Vertreterinnen bis in die
Gegenwart hinein verfolgt hat. Läßt sich doch überdies geschichtlich
leicht nachweisen, daß ohne diese Ursachen ans der bloßen wirtschaft-
lichen Frauennot keine Frauenbewegung wird.

Jn seiner Studie über die Frauenfrage im Mittelalter weist
einer unserer bedeutendsten Nationalökonomen, Karl Bücher, nach,
daß das deutsche Mittelalter unter einer wirtschaftlichen Frauennot
litt, die viel weitgreifender und trostloser gewesen zu sein scheint,
als die des 19. Jahrhunderts. Jn den Städten, von denen
statistische Angaben erhalten sind, zählte man durchschnittlich
1200 Frauen auf 1000 Männer. Die vielen Unversorgten, Über-
flüssigen aber fanden schon damals nur zum kleinen Teil in der
Hauswirtschaft ein Unterkommen. Die Gewerbe sträubten sich gegen
die weibliche Arbeit. Das Kloster wurde doch nur von verhältnis-
mäßig wenigen Frauen aufgesucht, und dasselbe gilt von den
Beghinenhäusern, einer Art weiblicher Hausgenossenschaft, zu der sich
die notleidenden und heimatlosen Frauen damals zusammenschlossen.
So finden wir denn Tausende von Frauen als "Fahrende" auf den
Landstraßen oder als die unglücklichen Jnsassen der städtischen Frauen-
häuser. Was sie da hineintrieb, dafür haben wir ein ergreifendes
Zeugnis in der Geschichte jenes Predigers Rudolf, der im 13. Jahr-
hundert sein Leben der Rettungsarbeit unter diesen Unglücklichen
widmete. Es wird uns berichtet, daß sie ihm antworteten: "Herr,
wir sind arm und schwach, wir können uns auf keine andere Weise
ernähren; gebt uns Wasser und Brot, bann wollen wir euch gern
folgen".

Also eine Frauennot mit all jenen furchtbaren Folgen für
Familie und öffentliche Sittlichkeit - und doch keine Frauen-
bewegung. Es genügt zur Erklärung dieser Tatsache nicht, auf die
Atomisierung der Frauen unter den alten Formen des wirtschaftlichen

wird –, daß mit der wirtschaftlichen Frauennot, gleichviel, wie sie
beseitigt wird, auch Frauenbewegung und Frauenfrage aus der Welt
geschafft wären, eine Auffassung, aus der heraus man sogar das
drastische Mittel der Zwangsheiraten plausibel zu machen gesucht hat.

Diese Auffassung schaltet die geistigen Ursachen der Bewegung
einfach aus. Wie sehr aber diese Ursachen mitgesprochen haben,
weiß jeder, der die Entwicklung der Frauenbewegung aus dem Ge-
dankenkreis ihrer ersten Vertreter und Vertreterinnen bis in die
Gegenwart hinein verfolgt hat. Läßt sich doch überdies geschichtlich
leicht nachweisen, daß ohne diese Ursachen ans der bloßen wirtschaft-
lichen Frauennot keine Frauenbewegung wird.

Jn seiner Studie über die Frauenfrage im Mittelalter weist
einer unserer bedeutendsten Nationalökonomen, Karl Bücher, nach,
daß das deutsche Mittelalter unter einer wirtschaftlichen Frauennot
litt, die viel weitgreifender und trostloser gewesen zu sein scheint,
als die des 19. Jahrhunderts. Jn den Städten, von denen
statistische Angaben erhalten sind, zählte man durchschnittlich
1200 Frauen auf 1000 Männer. Die vielen Unversorgten, Über-
flüssigen aber fanden schon damals nur zum kleinen Teil in der
Hauswirtschaft ein Unterkommen. Die Gewerbe sträubten sich gegen
die weibliche Arbeit. Das Kloster wurde doch nur von verhältnis-
mäßig wenigen Frauen aufgesucht, und dasselbe gilt von den
Beghinenhäusern, einer Art weiblicher Hausgenossenschaft, zu der sich
die notleidenden und heimatlosen Frauen damals zusammenschlossen.
So finden wir denn Tausende von Frauen als „Fahrende“ auf den
Landstraßen oder als die unglücklichen Jnsassen der städtischen Frauen-
häuser. Was sie da hineintrieb, dafür haben wir ein ergreifendes
Zeugnis in der Geschichte jenes Predigers Rudolf, der im 13. Jahr-
hundert sein Leben der Rettungsarbeit unter diesen Unglücklichen
widmete. Es wird uns berichtet, daß sie ihm antworteten: „Herr,
wir sind arm und schwach, wir können uns auf keine andere Weise
ernähren; gebt uns Wasser und Brot, bann wollen wir euch gern
folgen“.

Also eine Frauennot mit all jenen furchtbaren Folgen für
Familie und öffentliche Sittlichkeit – und doch keine Frauen-
bewegung. Es genügt zur Erklärung dieser Tatsache nicht, auf die
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[4/0004] wird –, daß mit der wirtschaftlichen Frauennot, gleichviel, wie sie beseitigt wird, auch Frauenbewegung und Frauenfrage aus der Welt geschafft wären, eine Auffassung, aus der heraus man sogar das drastische Mittel der Zwangsheiraten plausibel zu machen gesucht hat. Diese Auffassung schaltet die geistigen Ursachen der Bewegung einfach aus. Wie sehr aber diese Ursachen mitgesprochen haben, weiß jeder, der die Entwicklung der Frauenbewegung aus dem Ge- dankenkreis ihrer ersten Vertreter und Vertreterinnen bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat. Läßt sich doch überdies geschichtlich leicht nachweisen, daß ohne diese Ursachen ans der bloßen wirtschaft- lichen Frauennot keine Frauenbewegung wird. Jn seiner Studie über die Frauenfrage im Mittelalter weist einer unserer bedeutendsten Nationalökonomen, Karl Bücher, nach, daß das deutsche Mittelalter unter einer wirtschaftlichen Frauennot litt, die viel weitgreifender und trostloser gewesen zu sein scheint, als die des 19. Jahrhunderts. Jn den Städten, von denen statistische Angaben erhalten sind, zählte man durchschnittlich 1200 Frauen auf 1000 Männer. Die vielen Unversorgten, Über- flüssigen aber fanden schon damals nur zum kleinen Teil in der Hauswirtschaft ein Unterkommen. Die Gewerbe sträubten sich gegen die weibliche Arbeit. Das Kloster wurde doch nur von verhältnis- mäßig wenigen Frauen aufgesucht, und dasselbe gilt von den Beghinenhäusern, einer Art weiblicher Hausgenossenschaft, zu der sich die notleidenden und heimatlosen Frauen damals zusammenschlossen. So finden wir denn Tausende von Frauen als „Fahrende“ auf den Landstraßen oder als die unglücklichen Jnsassen der städtischen Frauen- häuser. Was sie da hineintrieb, dafür haben wir ein ergreifendes Zeugnis in der Geschichte jenes Predigers Rudolf, der im 13. Jahr- hundert sein Leben der Rettungsarbeit unter diesen Unglücklichen widmete. Es wird uns berichtet, daß sie ihm antworteten: „Herr, wir sind arm und schwach, wir können uns auf keine andere Weise ernähren; gebt uns Wasser und Brot, bann wollen wir euch gern folgen“. Also eine Frauennot mit all jenen furchtbaren Folgen für Familie und öffentliche Sittlichkeit – und doch keine Frauen- bewegung. Es genügt zur Erklärung dieser Tatsache nicht, auf die Atomisierung der Frauen unter den alten Formen des wirtschaftlichen

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-11-05T13:58:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-11-05T13:58:55Z)

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_endziel_1904/4>, abgerufen am 18.12.2024.