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Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904.

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des Staatslebens hinaustrat. Die Frauen sahen und sehen alle Tage,
wie einzig der seine Ansprüche durchsetzt, der die Hand auf die
Klinke der Gesetzgebung zu legen vermag, und so wird auch von
der wirtschaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in
Ländern mit ausgeprägt demokratischem Bewußtsein schon im Anfang
der Bewegung praktisch verfolgt wurde.

Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Jnhalt ihres Pro-
gramms machte die Frauenbewegung zur Massenbewegung, nötigte
sie, sich Schlagworte zu prägen, Organisationen zu schaffen, und
sammelte eine Gefolgschaft von Tausenden um ihre Fahnen. Es liegt
etwas Jmposantes in der unbeirrten Überzeugtheit, die sich in ein-
drucksvollen Massenkundgebungen gegen Jahrtausende alte rechtliche
und sittliche Begriffe wendet und mit der Zuversicht jenes alten
"Gott will es!" der Kreuzfahrer das Land der Zukunft sucht. Daß
dabei zugleich eine gewisse Senkung des Niveaus eintreten muß, daß
das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht
eben die feinsten Naturen zuweilen im Vordergrund standen, das ist
eine Erscheinung, welche die Frauenbewegung mit jeder anderen
Massenbewegung teilt.

An diesem Punkt aber hat sich eine Reaktion entwickelt, die in
dem letzten Jahrzehnt das vielgestaltige Gewirr des Kampfes mit
neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es ist jener ästhetische Jndividua-
lismus, wie ihn Ellen Key in die Frauenbewegung eingeführt hat. So
lange diese Jndividualistinnen dem großen sozialen Kampf gewisser-
maßen vom Bagagewagen aus zusehen und über die Häßlichkeiten
darin etwas preziös die Nase rümpfen, haben sie für die Frauen-
bewegung wenig zu bedeuten. Sie sollten ihr unbefriedigtes ästhetisches
Empfinden, das sich von der "Frauensache" verletzt abwendet, mit
dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann
man die Schönheit seiner Haltung wahren, wenn man im Ge-
dränge steht?

Aber diese Richtung, die auch der Frauenbewegung mit den
Forderungen der "Lebenskunst", des schönen Egoismus, gegenübertritt,
droht doch, den Mittelpunkt ihres ganzen Programms zu verschieben,
indem sie das individualistische Prinzip da an die Stelle des sozialen
setzt, wo es am verhängnisvollsten werden muß, auf dem Gebiet der
sexuellen Sittlichkeit. Denn geht die Frauenbewegung ihrem Ursprung

des Staatslebens hinaustrat. Die Frauen sahen und sehen alle Tage,
wie einzig der seine Ansprüche durchsetzt, der die Hand auf die
Klinke der Gesetzgebung zu legen vermag, und so wird auch von
der wirtschaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in
Ländern mit ausgeprägt demokratischem Bewußtsein schon im Anfang
der Bewegung praktisch verfolgt wurde.

Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Jnhalt ihres Pro-
gramms machte die Frauenbewegung zur Massenbewegung, nötigte
sie, sich Schlagworte zu prägen, Organisationen zu schaffen, und
sammelte eine Gefolgschaft von Tausenden um ihre Fahnen. Es liegt
etwas Jmposantes in der unbeirrten Überzeugtheit, die sich in ein-
drucksvollen Massenkundgebungen gegen Jahrtausende alte rechtliche
und sittliche Begriffe wendet und mit der Zuversicht jenes alten
„Gott will es!“ der Kreuzfahrer das Land der Zukunft sucht. Daß
dabei zugleich eine gewisse Senkung des Niveaus eintreten muß, daß
das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht
eben die feinsten Naturen zuweilen im Vordergrund standen, das ist
eine Erscheinung, welche die Frauenbewegung mit jeder anderen
Massenbewegung teilt.

An diesem Punkt aber hat sich eine Reaktion entwickelt, die in
dem letzten Jahrzehnt das vielgestaltige Gewirr des Kampfes mit
neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es ist jener ästhetische Jndividua-
lismus, wie ihn Ellen Key in die Frauenbewegung eingeführt hat. So
lange diese Jndividualistinnen dem großen sozialen Kampf gewisser-
maßen vom Bagagewagen aus zusehen und über die Häßlichkeiten
darin etwas preziös die Nase rümpfen, haben sie für die Frauen-
bewegung wenig zu bedeuten. Sie sollten ihr unbefriedigtes ästhetisches
Empfinden, das sich von der „Frauensache“ verletzt abwendet, mit
dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann
man die Schönheit seiner Haltung wahren, wenn man im Ge-
dränge steht?

Aber diese Richtung, die auch der Frauenbewegung mit den
Forderungen der „Lebenskunst“, des schönen Egoismus, gegenübertritt,
droht doch, den Mittelpunkt ihres ganzen Programms zu verschieben,
indem sie das individualistische Prinzip da an die Stelle des sozialen
setzt, wo es am verhängnisvollsten werden muß, auf dem Gebiet der
sexuellen Sittlichkeit. Denn geht die Frauenbewegung ihrem Ursprung

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[11/0011] des Staatslebens hinaustrat. Die Frauen sahen und sehen alle Tage, wie einzig der seine Ansprüche durchsetzt, der die Hand auf die Klinke der Gesetzgebung zu legen vermag, und so wird auch von der wirtschaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in Ländern mit ausgeprägt demokratischem Bewußtsein schon im Anfang der Bewegung praktisch verfolgt wurde. Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Jnhalt ihres Pro- gramms machte die Frauenbewegung zur Massenbewegung, nötigte sie, sich Schlagworte zu prägen, Organisationen zu schaffen, und sammelte eine Gefolgschaft von Tausenden um ihre Fahnen. Es liegt etwas Jmposantes in der unbeirrten Überzeugtheit, die sich in ein- drucksvollen Massenkundgebungen gegen Jahrtausende alte rechtliche und sittliche Begriffe wendet und mit der Zuversicht jenes alten „Gott will es!“ der Kreuzfahrer das Land der Zukunft sucht. Daß dabei zugleich eine gewisse Senkung des Niveaus eintreten muß, daß das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht eben die feinsten Naturen zuweilen im Vordergrund standen, das ist eine Erscheinung, welche die Frauenbewegung mit jeder anderen Massenbewegung teilt. An diesem Punkt aber hat sich eine Reaktion entwickelt, die in dem letzten Jahrzehnt das vielgestaltige Gewirr des Kampfes mit neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es ist jener ästhetische Jndividua- lismus, wie ihn Ellen Key in die Frauenbewegung eingeführt hat. So lange diese Jndividualistinnen dem großen sozialen Kampf gewisser- maßen vom Bagagewagen aus zusehen und über die Häßlichkeiten darin etwas preziös die Nase rümpfen, haben sie für die Frauen- bewegung wenig zu bedeuten. Sie sollten ihr unbefriedigtes ästhetisches Empfinden, das sich von der „Frauensache“ verletzt abwendet, mit dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann man die Schönheit seiner Haltung wahren, wenn man im Ge- dränge steht? Aber diese Richtung, die auch der Frauenbewegung mit den Forderungen der „Lebenskunst“, des schönen Egoismus, gegenübertritt, droht doch, den Mittelpunkt ihres ganzen Programms zu verschieben, indem sie das individualistische Prinzip da an die Stelle des sozialen setzt, wo es am verhängnisvollsten werden muß, auf dem Gebiet der sexuellen Sittlichkeit. Denn geht die Frauenbewegung ihrem Ursprung

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-11-05T13:58:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-11-05T13:58:55Z)

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_endziel_1904/11>, abgerufen am 22.11.2024.