§. 111. Man ist ferner aus eben diesen Gründen, und wegen der geringen Anzahl der Buchstaben, fast nothwendig daran gebunden, daß man vielmehr die Sylben als Buchstaben zur Grundlage der Bedeutung der zusammengesetzten Wörter macht. Jhre Anzahl ist an sich schon ungemein groß, und man kann sagen größer, als daß sie nicht sollte dem Gedächtniß zur Last werden, wenn jede Sylbe nur einen individualen Be- griff vorstellen sollte, der mit andern nichts gemein hat. Man versuche es, allen Pflanzen, Thieren und ihren Theilen, allen Arten des Steinreiches, allen Werkzeu- gen etc. einsylbige Namen zu geben. Es wird ein Ver- zeichniß herauskommen, dessen Erlernung ungemein vie- le Zeit gebrauchen wird.
§. 112. Jndessen ist es, an sich betrachtet, das na- türlichste, daß ein Begriff, der für sich gedacht werden kann, schlechthin nur durch eine Syl- be angedeutet werde. Denn eine Sylbe läßt sich für sich ebenfalls mit einem male aussprechen. Die Kürze des Zeichens ist eine Vollkommenheit, und es bedarf ein Zeichen nicht mehr, als daß es das Bewußt- seyn der Sache errege. Aus diesem Grunde sind zu- sammengesetzte Wörter, in welchen nicht jede Sylbe ih- re eigene Bedeutung hat, Unvollkommenheiten einer Sprache. Man muß aber nicht alle Wörter von die- ser Art, die in den wirklichen Sprachen vorkommen, nach dieser strengen Regel, oder nach derselben allein beurtheilen. Von vielen Wörtern ist die Bedeutung der Sylben und der anfängliche Anlaß zu ihrer Zusam- mensetzung verlohren, dessen Erkenntniß uns anzeigen würde, was das Wort in seiner ersten Bildung und in seinen Sylben und Fügung derselben bedeutet habe. Bey andern Wörtern war der Anlaß zu der Zusam- mensetzung etwan ein Jrrthum, oder etwas von der be- sondern Gedenkensart ihres Urhebers, und dieses macht,
daß
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Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
§. 111. Man iſt ferner aus eben dieſen Gruͤnden, und wegen der geringen Anzahl der Buchſtaben, faſt nothwendig daran gebunden, daß man vielmehr die Sylben als Buchſtaben zur Grundlage der Bedeutung der zuſammengeſetzten Woͤrter macht. Jhre Anzahl iſt an ſich ſchon ungemein groß, und man kann ſagen groͤßer, als daß ſie nicht ſollte dem Gedaͤchtniß zur Laſt werden, wenn jede Sylbe nur einen individualen Be- griff vorſtellen ſollte, der mit andern nichts gemein hat. Man verſuche es, allen Pflanzen, Thieren und ihren Theilen, allen Arten des Steinreiches, allen Werkzeu- gen ꝛc. einſylbige Namen zu geben. Es wird ein Ver- zeichniß herauskommen, deſſen Erlernung ungemein vie- le Zeit gebrauchen wird.
§. 112. Jndeſſen iſt es, an ſich betrachtet, das na- tuͤrlichſte, daß ein Begriff, der fuͤr ſich gedacht werden kann, ſchlechthin nur durch eine Syl- be angedeutet werde. Denn eine Sylbe laͤßt ſich fuͤr ſich ebenfalls mit einem male ausſprechen. Die Kuͤrze des Zeichens iſt eine Vollkommenheit, und es bedarf ein Zeichen nicht mehr, als daß es das Bewußt- ſeyn der Sache errege. Aus dieſem Grunde ſind zu- ſammengeſetzte Woͤrter, in welchen nicht jede Sylbe ih- re eigene Bedeutung hat, Unvollkommenheiten einer Sprache. Man muß aber nicht alle Woͤrter von die- ſer Art, die in den wirklichen Sprachen vorkommen, nach dieſer ſtrengen Regel, oder nach derſelben allein beurtheilen. Von vielen Woͤrtern iſt die Bedeutung der Sylben und der anfaͤngliche Anlaß zu ihrer Zuſam- menſetzung verlohren, deſſen Erkenntniß uns anzeigen wuͤrde, was das Wort in ſeiner erſten Bildung und in ſeinen Sylben und Fuͤgung derſelben bedeutet habe. Bey andern Woͤrtern war der Anlaß zu der Zuſam- menſetzung etwan ein Jrrthum, oder etwas von der be- ſondern Gedenkensart ihres Urhebers, und dieſes macht,
daß
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Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
§. 111. Man iſt ferner aus eben dieſen Gruͤnden,
und wegen der geringen Anzahl der Buchſtaben, faſt
nothwendig daran gebunden, daß man vielmehr die
Sylben als Buchſtaben zur Grundlage der Bedeutung
der zuſammengeſetzten Woͤrter macht. Jhre Anzahl
iſt an ſich ſchon ungemein groß, und man kann ſagen
groͤßer, als daß ſie nicht ſollte dem Gedaͤchtniß zur Laſt
werden, wenn jede Sylbe nur einen individualen Be-
griff vorſtellen ſollte, der mit andern nichts gemein hat.
Man verſuche es, allen Pflanzen, Thieren und ihren
Theilen, allen Arten des Steinreiches, allen Werkzeu-
gen ꝛc. einſylbige Namen zu geben. Es wird ein Ver-
zeichniß herauskommen, deſſen Erlernung ungemein vie-
le Zeit gebrauchen wird.
§. 112. Jndeſſen iſt es, an ſich betrachtet, das na-
tuͤrlichſte, daß ein Begriff, der fuͤr ſich gedacht
werden kann, ſchlechthin nur durch eine Syl-
be angedeutet werde. Denn eine Sylbe laͤßt ſich
fuͤr ſich ebenfalls mit einem male ausſprechen. Die
Kuͤrze des Zeichens iſt eine Vollkommenheit, und es
bedarf ein Zeichen nicht mehr, als daß es das Bewußt-
ſeyn der Sache errege. Aus dieſem Grunde ſind zu-
ſammengeſetzte Woͤrter, in welchen nicht jede Sylbe ih-
re eigene Bedeutung hat, Unvollkommenheiten einer
Sprache. Man muß aber nicht alle Woͤrter von die-
ſer Art, die in den wirklichen Sprachen vorkommen,
nach dieſer ſtrengen Regel, oder nach derſelben allein
beurtheilen. Von vielen Woͤrtern iſt die Bedeutung
der Sylben und der anfaͤngliche Anlaß zu ihrer Zuſam-
menſetzung verlohren, deſſen Erkenntniß uns anzeigen
wuͤrde, was das Wort in ſeiner erſten Bildung und
in ſeinen Sylben und Fuͤgung derſelben bedeutet habe.
Bey andern Woͤrtern war der Anlaß zu der Zuſam-
menſetzung etwan ein Jrrthum, oder etwas von der be-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/73>, abgerufen am 23.11.2024.
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