fern er Dichter ist, von einer historischen Erzählung, als welche die Sache an sich und ohne besonders gewählten Gesichtspunkt beschreiben, und daher den subjectiven Theil des Scheins ganz weglassen solle (§. 274. 278.).
§. 280. Die Gemälde des Dichters können an sich schon erheblich genug seyn, die Aufmerksamkeit des Le- sers zu beschäfftigen. Es giebt aber besonders in dra- matischen Stücken und Epopeen solche Stellen, wo der Leser Gemälde erwartet, und der Dichter selbst muß sol- che Stellen veranlassen, um sich der stärkern und anhal- tenden Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr zu versi- chern. Solche Gemälde sind in Absicht auf den Leser von zweyerley Arten. Denn entweder sieht er den Jnn- halt überhaupt betrachtet voraus, und da will er ihn nur von dem Dichter geschildert wissen, und dieses for- dert einen höhern Grad des Enthusiasmus, wie z. E. wenn Contraste oder Excesse von Affecten zu malen sind: oder der Leser sieht den Jnnhalt nicht voraus, wie z. E. wenn durch neue Vorfälle die Gesichtspunkte der Per- sonen geändert werden, die der Dichter vorstellt, und da will der Leser die Eindrücke wissen, die die geänderten Umstände auf jede machen, und welchen Einfluß sie auf den noch ungewissen Ausgang haben können, oder wie ferne sie denselben noch ungewisser machen. Die Sei- ten, von welchen die eingeführten Personen die Sache ansehen, sind objectiue verschieden, so oft einige Theile von Verhältnissen der Sache der einen Person bekannt, der andern verborgen sind, subjectiuc aber, so fern auch bey einerley Theilen und Verhältnissen der Sache jede Person das Jndividuale ihrer Gedenkens- und Ge- müthsart und Gesinnungen mit der Vorstellung solcher Theile und Verhältnisse verbindet. Beyde Verschie- denheiten und die durch neue Vorfälle veranlaßten Ab- änderungen darinn, geben der Sache in Absicht auf die
Leser
Von der Zeichnung des Scheins.
fern er Dichter iſt, von einer hiſtoriſchen Erzaͤhlung, als welche die Sache an ſich und ohne beſonders gewaͤhlten Geſichtspunkt beſchreiben, und daher den ſubjectiven Theil des Scheins ganz weglaſſen ſolle (§. 274. 278.).
§. 280. Die Gemaͤlde des Dichters koͤnnen an ſich ſchon erheblich genug ſeyn, die Aufmerkſamkeit des Le- ſers zu beſchaͤfftigen. Es giebt aber beſonders in dra- matiſchen Stuͤcken und Epopeen ſolche Stellen, wo der Leſer Gemaͤlde erwartet, und der Dichter ſelbſt muß ſol- che Stellen veranlaſſen, um ſich der ſtaͤrkern und anhal- tenden Aufmerkſamkeit des Leſers deſto mehr zu verſi- chern. Solche Gemaͤlde ſind in Abſicht auf den Leſer von zweyerley Arten. Denn entweder ſieht er den Jnn- halt uͤberhaupt betrachtet voraus, und da will er ihn nur von dem Dichter geſchildert wiſſen, und dieſes for- dert einen hoͤhern Grad des Enthuſiaſmus, wie z. E. wenn Contraſte oder Exceſſe von Affecten zu malen ſind: oder der Leſer ſieht den Jnnhalt nicht voraus, wie z. E. wenn durch neue Vorfaͤlle die Geſichtspunkte der Per- ſonen geaͤndert werden, die der Dichter vorſtellt, und da will der Leſer die Eindruͤcke wiſſen, die die geaͤnderten Umſtaͤnde auf jede machen, und welchen Einfluß ſie auf den noch ungewiſſen Ausgang haben koͤnnen, oder wie ferne ſie denſelben noch ungewiſſer machen. Die Sei- ten, von welchen die eingefuͤhrten Perſonen die Sache anſehen, ſind objectiue verſchieden, ſo oft einige Theile von Verhaͤltniſſen der Sache der einen Perſon bekannt, der andern verborgen ſind, ſubjectiuc aber, ſo fern auch bey einerley Theilen und Verhaͤltniſſen der Sache jede Perſon das Jndividuale ihrer Gedenkens- und Ge- muͤthsart und Geſinnungen mit der Vorſtellung ſolcher Theile und Verhaͤltniſſe verbindet. Beyde Verſchie- denheiten und die durch neue Vorfaͤlle veranlaßten Ab- aͤnderungen darinn, geben der Sache in Abſicht auf die
Leſer
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Von der Zeichnung des Scheins.
fern er Dichter iſt, von einer hiſtoriſchen Erzaͤhlung, als
welche die Sache an ſich und ohne beſonders gewaͤhlten
Geſichtspunkt beſchreiben, und daher den ſubjectiven
Theil des Scheins ganz weglaſſen ſolle (§. 274. 278.).
§. 280. Die Gemaͤlde des Dichters koͤnnen an ſich
ſchon erheblich genug ſeyn, die Aufmerkſamkeit des Le-
ſers zu beſchaͤfftigen. Es giebt aber beſonders in dra-
matiſchen Stuͤcken und Epopeen ſolche Stellen, wo der
Leſer Gemaͤlde erwartet, und der Dichter ſelbſt muß ſol-
che Stellen veranlaſſen, um ſich der ſtaͤrkern und anhal-
tenden Aufmerkſamkeit des Leſers deſto mehr zu verſi-
chern. Solche Gemaͤlde ſind in Abſicht auf den Leſer
von zweyerley Arten. Denn entweder ſieht er den Jnn-
halt uͤberhaupt betrachtet voraus, und da will er ihn
nur von dem Dichter geſchildert wiſſen, und dieſes for-
dert einen hoͤhern Grad des Enthuſiaſmus, wie z. E.
wenn Contraſte oder Exceſſe von Affecten zu malen ſind:
oder der Leſer ſieht den Jnnhalt nicht voraus, wie z. E.
wenn durch neue Vorfaͤlle die Geſichtspunkte der Per-
ſonen geaͤndert werden, die der Dichter vorſtellt, und da
will der Leſer die Eindruͤcke wiſſen, die die geaͤnderten
Umſtaͤnde auf jede machen, und welchen Einfluß ſie auf
den noch ungewiſſen Ausgang haben koͤnnen, oder wie
ferne ſie denſelben noch ungewiſſer machen. Die Sei-
ten, von welchen die eingefuͤhrten Perſonen die Sache
anſehen, ſind objectiue verſchieden, ſo oft einige Theile
von Verhaͤltniſſen der Sache der einen Perſon bekannt,
der andern verborgen ſind, ſubjectiuc aber, ſo fern
auch bey einerley Theilen und Verhaͤltniſſen der Sache
jede Perſon das Jndividuale ihrer Gedenkens- und Ge-
muͤthsart und Geſinnungen mit der Vorſtellung ſolcher
Theile und Verhaͤltniſſe verbindet. Beyde Verſchie-
denheiten und die durch neue Vorfaͤlle veranlaßten Ab-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/437>, abgerufen am 22.11.2024.
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