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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Zeichnung des Scheins.
Wahrheit ihres Thuns nicht ist, und da selbst die Aga-
thologie, die wissenschaftlich und ein Werk des Weltwei-
sen seyn sollte, die oben (§. 131.) dazu erforderte Voll-
kommenheit noch lange nicht erreicht hat.

§. 277. Man hat aber in Ansehung der vorhin
(§. 275.) angeführten Betrachtungen allerdings den
Unterschied zu machen, ob der Dichter selbst redet, oder
ob er andere redend einführt. Jm ersten Fall wird al-
ler Eindruck, den das Gedicht macht, auf des Dichters
Rechnung gesetzt, so fern nämlich der Leser nicht, ohne
Verschuldung des Dichters, eigenes mit einmengt. Jm
andern Fall hat der Dichter allerdings die Freyheit, je-
den an sich möglichen Charakter vorzustellen, wie es in
dramatischen Stücken und Epopeen häufig geschieht.
Jedoch schränkt ihn die Moral auch so fern ein, daß er
bey Vorstellung schlechter Charakter vermeide, daß sie
nicht die Wirkung von schlechten Beyspielen haben, son-
dern bey dem Leser Widerwillen und Abneigung erwe-
cken, und hingegen Zweifel wider die Wahrheit und
kräftige oder gegebene Aergernisse vermieden werden.

§. 278. Da der Dichter, so fern er selbst redet, die
Seite der Sache, die er sich in dem angenommenen
Gesichtspunkt vorstellt, mit allen Eindrücken vormalt,
die sie auf seine Erkenntniß und Begehrungskräfte ma-
chen; so macht in seinem Gemälde der subjective Theil
des Scheins einen beträchtlichen Theil desselben aus,
und das individuale in der Gedenkens- und Gemüths-
art des Dichters mengt sich durchaus mit ein. Man
kann daher leicht den Schluß machen, daß das Erhab-
nere in den Gedanken, das Feinere in den Bildern der
Einbildungskraft, und das Edlere in den Affecten bey
dem Dichter selbst seyn muß, wenn es zu dem Gemäl-
de ungesuchten und ungezwungenen Stoff geben, und
selbst auch die Sache und ihre Seite bestimmen soll,

die

Von der Zeichnung des Scheins.
Wahrheit ihres Thuns nicht iſt, und da ſelbſt die Aga-
thologie, die wiſſenſchaftlich und ein Werk des Weltwei-
ſen ſeyn ſollte, die oben (§. 131.) dazu erforderte Voll-
kommenheit noch lange nicht erreicht hat.

§. 277. Man hat aber in Anſehung der vorhin
(§. 275.) angefuͤhrten Betrachtungen allerdings den
Unterſchied zu machen, ob der Dichter ſelbſt redet, oder
ob er andere redend einfuͤhrt. Jm erſten Fall wird al-
ler Eindruck, den das Gedicht macht, auf des Dichters
Rechnung geſetzt, ſo fern naͤmlich der Leſer nicht, ohne
Verſchuldung des Dichters, eigenes mit einmengt. Jm
andern Fall hat der Dichter allerdings die Freyheit, je-
den an ſich moͤglichen Charakter vorzuſtellen, wie es in
dramatiſchen Stuͤcken und Epopeen haͤufig geſchieht.
Jedoch ſchraͤnkt ihn die Moral auch ſo fern ein, daß er
bey Vorſtellung ſchlechter Charakter vermeide, daß ſie
nicht die Wirkung von ſchlechten Beyſpielen haben, ſon-
dern bey dem Leſer Widerwillen und Abneigung erwe-
cken, und hingegen Zweifel wider die Wahrheit und
kraͤftige oder gegebene Aergerniſſe vermieden werden.

§. 278. Da der Dichter, ſo fern er ſelbſt redet, die
Seite der Sache, die er ſich in dem angenommenen
Geſichtspunkt vorſtellt, mit allen Eindruͤcken vormalt,
die ſie auf ſeine Erkenntniß und Begehrungskraͤfte ma-
chen; ſo macht in ſeinem Gemaͤlde der ſubjective Theil
des Scheins einen betraͤchtlichen Theil deſſelben aus,
und das individuale in der Gedenkens- und Gemuͤths-
art des Dichters mengt ſich durchaus mit ein. Man
kann daher leicht den Schluß machen, daß das Erhab-
nere in den Gedanken, das Feinere in den Bildern der
Einbildungskraft, und das Edlere in den Affecten bey
dem Dichter ſelbſt ſeyn muß, wenn es zu dem Gemaͤl-
de ungeſuchten und ungezwungenen Stoff geben, und
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[429/0435] Von der Zeichnung des Scheins. Wahrheit ihres Thuns nicht iſt, und da ſelbſt die Aga- thologie, die wiſſenſchaftlich und ein Werk des Weltwei- ſen ſeyn ſollte, die oben (§. 131.) dazu erforderte Voll- kommenheit noch lange nicht erreicht hat. §. 277. Man hat aber in Anſehung der vorhin (§. 275.) angefuͤhrten Betrachtungen allerdings den Unterſchied zu machen, ob der Dichter ſelbſt redet, oder ob er andere redend einfuͤhrt. Jm erſten Fall wird al- ler Eindruck, den das Gedicht macht, auf des Dichters Rechnung geſetzt, ſo fern naͤmlich der Leſer nicht, ohne Verſchuldung des Dichters, eigenes mit einmengt. Jm andern Fall hat der Dichter allerdings die Freyheit, je- den an ſich moͤglichen Charakter vorzuſtellen, wie es in dramatiſchen Stuͤcken und Epopeen haͤufig geſchieht. Jedoch ſchraͤnkt ihn die Moral auch ſo fern ein, daß er bey Vorſtellung ſchlechter Charakter vermeide, daß ſie nicht die Wirkung von ſchlechten Beyſpielen haben, ſon- dern bey dem Leſer Widerwillen und Abneigung erwe- cken, und hingegen Zweifel wider die Wahrheit und kraͤftige oder gegebene Aergerniſſe vermieden werden. §. 278. Da der Dichter, ſo fern er ſelbſt redet, die Seite der Sache, die er ſich in dem angenommenen Geſichtspunkt vorſtellt, mit allen Eindruͤcken vormalt, die ſie auf ſeine Erkenntniß und Begehrungskraͤfte ma- chen; ſo macht in ſeinem Gemaͤlde der ſubjective Theil des Scheins einen betraͤchtlichen Theil deſſelben aus, und das individuale in der Gedenkens- und Gemuͤths- art des Dichters mengt ſich durchaus mit ein. Man kann daher leicht den Schluß machen, daß das Erhab- nere in den Gedanken, das Feinere in den Bildern der Einbildungskraft, und das Edlere in den Affecten bey dem Dichter ſelbſt ſeyn muß, wenn es zu dem Gemaͤl- de ungeſuchten und ungezwungenen Stoff geben, und ſelbſt auch die Sache und ihre Seite beſtimmen ſoll, die

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/435>, abgerufen am 24.11.2024.