stücke, in Absicht auf die Untersuchung und Vergleichung der Aussagen und Zeugnisse, hierüber angemerkt haben (§. 234. 241.).
§. 274. Die Dichtkunst beschäfftigt sich vornehm- lich, uns die Dinge nach ihrem Schein vorzumalen, und durch ihre Vorstellungen diejenigen Eindrücke voll- ständig hervorzubringen, die die Empfindung der Sache selbst in uns machen würde, wenn wir sie aus dem Ge- sichtspunkt sähen, aus welchem sie der Dichter vorstellt, und in den er uns gleichsam in Gedanken versetzt. Die Vollständigkeit dieses Eindruckes macht, daß der Dich- ter sich mit den eigenen Namen der Dinge nicht so schlechthin begnügen kann, sondern der Beschreibung derselben einen lebhaftern Schwung geben muß, damit die Seite, von welcher er die Sache vorstellt, ganz auf- gedeckt uns vorgelegt werde. Solche Gemälde unter- scheiden sich stuffenweise von den Beschreibungen, die ein Redner von eben der Sache geben würde, und die an sich schon mehr enthalten muß, als eine bloß histori- sche Nachricht oder Erzählung, oder eine wissenschaftli- che Beschreibung und Zergliederung der Sache. Letz- tere geht auf das Wahre, und gebraucht die eigenen Namen und Kunstwörter, um alles genau zu benennen, und den Schein als Schein, das Wahre als wahr an- zuzeigen. Die historische Erzählung, so fern wir sie der wissenschaftlichen entgegensetzen, läßt Wahres und Schein ungetrennt, und beschreibt beydes, ohne viele Kunstwörter mit einzumengen, und ohne Absicht oder unpartheyisch. Ein Redner aber richtet seine Beschrei- bung der Absicht der Rede gemäß ein, damit sie zur Erleuchtung, Beredung und Bewegung der Affecten diene, weil er um den Eindruck besorgt seyn muß, den jede Theile seiner Rede auf den Zuhörer machen sollen. Die Vermeidung des Uebertriebenen schränkt den Red- ner so ein, daß in der Rede alles ungesucht und unge-
zwungen
VI. Hauptſtuͤck.
ſtuͤcke, in Abſicht auf die Unterſuchung und Vergleichung der Ausſagen und Zeugniſſe, hieruͤber angemerkt haben (§. 234. 241.).
§. 274. Die Dichtkunſt beſchaͤfftigt ſich vornehm- lich, uns die Dinge nach ihrem Schein vorzumalen, und durch ihre Vorſtellungen diejenigen Eindruͤcke voll- ſtaͤndig hervorzubringen, die die Empfindung der Sache ſelbſt in uns machen wuͤrde, wenn wir ſie aus dem Ge- ſichtspunkt ſaͤhen, aus welchem ſie der Dichter vorſtellt, und in den er uns gleichſam in Gedanken verſetzt. Die Vollſtaͤndigkeit dieſes Eindruckes macht, daß der Dich- ter ſich mit den eigenen Namen der Dinge nicht ſo ſchlechthin begnuͤgen kann, ſondern der Beſchreibung derſelben einen lebhaftern Schwung geben muß, damit die Seite, von welcher er die Sache vorſtellt, ganz auf- gedeckt uns vorgelegt werde. Solche Gemaͤlde unter- ſcheiden ſich ſtuffenweiſe von den Beſchreibungen, die ein Redner von eben der Sache geben wuͤrde, und die an ſich ſchon mehr enthalten muß, als eine bloß hiſtori- ſche Nachricht oder Erzaͤhlung, oder eine wiſſenſchaftli- che Beſchreibung und Zergliederung der Sache. Letz- tere geht auf das Wahre, und gebraucht die eigenen Namen und Kunſtwoͤrter, um alles genau zu benennen, und den Schein als Schein, das Wahre als wahr an- zuzeigen. Die hiſtoriſche Erzaͤhlung, ſo fern wir ſie der wiſſenſchaftlichen entgegenſetzen, laͤßt Wahres und Schein ungetrennt, und beſchreibt beydes, ohne viele Kunſtwoͤrter mit einzumengen, und ohne Abſicht oder unpartheyiſch. Ein Redner aber richtet ſeine Beſchrei- bung der Abſicht der Rede gemaͤß ein, damit ſie zur Erleuchtung, Beredung und Bewegung der Affecten diene, weil er um den Eindruck beſorgt ſeyn muß, den jede Theile ſeiner Rede auf den Zuhoͤrer machen ſollen. Die Vermeidung des Uebertriebenen ſchraͤnkt den Red- ner ſo ein, daß in der Rede alles ungeſucht und unge-
zwungen
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VI. Hauptſtuͤck.
ſtuͤcke, in Abſicht auf die Unterſuchung und Vergleichung
der Ausſagen und Zeugniſſe, hieruͤber angemerkt haben
(§. 234. 241.).
§. 274. Die Dichtkunſt beſchaͤfftigt ſich vornehm-
lich, uns die Dinge nach ihrem Schein vorzumalen,
und durch ihre Vorſtellungen diejenigen Eindruͤcke voll-
ſtaͤndig hervorzubringen, die die Empfindung der Sache
ſelbſt in uns machen wuͤrde, wenn wir ſie aus dem Ge-
ſichtspunkt ſaͤhen, aus welchem ſie der Dichter vorſtellt,
und in den er uns gleichſam in Gedanken verſetzt. Die
Vollſtaͤndigkeit dieſes Eindruckes macht, daß der Dich-
ter ſich mit den eigenen Namen der Dinge nicht ſo
ſchlechthin begnuͤgen kann, ſondern der Beſchreibung
derſelben einen lebhaftern Schwung geben muß, damit
die Seite, von welcher er die Sache vorſtellt, ganz auf-
gedeckt uns vorgelegt werde. Solche Gemaͤlde unter-
ſcheiden ſich ſtuffenweiſe von den Beſchreibungen, die
ein Redner von eben der Sache geben wuͤrde, und die
an ſich ſchon mehr enthalten muß, als eine bloß hiſtori-
ſche Nachricht oder Erzaͤhlung, oder eine wiſſenſchaftli-
che Beſchreibung und Zergliederung der Sache. Letz-
tere geht auf das Wahre, und gebraucht die eigenen
Namen und Kunſtwoͤrter, um alles genau zu benennen,
und den Schein als Schein, das Wahre als wahr an-
zuzeigen. Die hiſtoriſche Erzaͤhlung, ſo fern wir ſie
der wiſſenſchaftlichen entgegenſetzen, laͤßt Wahres und
Schein ungetrennt, und beſchreibt beydes, ohne viele
Kunſtwoͤrter mit einzumengen, und ohne Abſicht oder
unpartheyiſch. Ein Redner aber richtet ſeine Beſchrei-
bung der Abſicht der Rede gemaͤß ein, damit ſie zur
Erleuchtung, Beredung und Bewegung der Affecten
diene, weil er um den Eindruck beſorgt ſeyn muß, den
jede Theile ſeiner Rede auf den Zuhoͤrer machen ſollen.
Die Vermeidung des Uebertriebenen ſchraͤnkt den Red-
ner ſo ein, daß in der Rede alles ungeſucht und unge-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/432>, abgerufen am 22.11.2024.
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