zwungene Nachahmung der Geberden gehört mit unter die Vollkommenheiten des Schauspieles, und wird auch einem Redner, als ein Mittel, den Vortrag zu beleben, zur Zierde gerechnet. Hingegen gehört die Frage von der Zuläßigkeit der Verstellung in die Sittenlehre, und wird darinn billig verworfen, wenn sie zum Nachtheil anderer gebraucht wird.
§. 271. Das Gedankenreich beut uns ebenfalls Stoff zu einem beträchtlichen Theile der transcendenten Perspective an. Es geschieht nicht selten, daß wir uns die Sachen nach demjenigen Gesichtspunkt vorstellen müssen, aus welchem sie andere betrachten, es sey, daß wir uns in Gedanken an ihre Stelle setzen, oder daß wir wenigstens von ihrer Vorstellungsart uns einen Begriff machen müssen. Letzteres geschieht, wenn wir sehen oder wenigstens uns einbilden, daß wir nicht glei- cher Meynung mit ihnen sind, oder wenn ihr Verfahren mit unserer Gedenkensart nicht übereinkömmt. Erste- res aber thun wir, um uns die Umstände, worinn an- dere sich befinden, lebhafter und vollständiger vorzustel- len, und sie mit ihrem Betragen und Entschließungen zu vergleichen, oder auch dahin dienende Anschläge zu geben. Die Redensarten: Jch sehe nun schon, wie Cajus sich die Sache vorstellt; wenn ich an seiner Stelle wäre, so etc. Wer Titium kennt, wird sich nicht verwundern, daß etc. und mehrere dergleichen, geben die Fälle zu erkennen, wo die hier er- wähnte Perspective vorkömmt, und zugleich auch, daß sie von sehr häufigem Gebrauche ist, besonders, wo man jemand seinen Jrrthum und den Ursprung dessel- ben aufklären, ihn zurechte weisen, ihm Anschläge ge- ben, oder auch sein Betragen nach der Billigkeit beur- theilen will.
§. 272. Das Zurückdenken und Ueberlegen unserer eigenen sowohl dermaligen als auch ehmals gehabten
Gedan-
VI. Hauptſtuͤck.
zwungene Nachahmung der Geberden gehoͤrt mit unter die Vollkommenheiten des Schauſpieles, und wird auch einem Redner, als ein Mittel, den Vortrag zu beleben, zur Zierde gerechnet. Hingegen gehoͤrt die Frage von der Zulaͤßigkeit der Verſtellung in die Sittenlehre, und wird darinn billig verworfen, wenn ſie zum Nachtheil anderer gebraucht wird.
§. 271. Das Gedankenreich beut uns ebenfalls Stoff zu einem betraͤchtlichen Theile der tranſcendenten Perſpective an. Es geſchieht nicht ſelten, daß wir uns die Sachen nach demjenigen Geſichtspunkt vorſtellen muͤſſen, aus welchem ſie andere betrachten, es ſey, daß wir uns in Gedanken an ihre Stelle ſetzen, oder daß wir wenigſtens von ihrer Vorſtellungsart uns einen Begriff machen muͤſſen. Letzteres geſchieht, wenn wir ſehen oder wenigſtens uns einbilden, daß wir nicht glei- cher Meynung mit ihnen ſind, oder wenn ihr Verfahren mit unſerer Gedenkensart nicht uͤbereinkoͤmmt. Erſte- res aber thun wir, um uns die Umſtaͤnde, worinn an- dere ſich befinden, lebhafter und vollſtaͤndiger vorzuſtel- len, und ſie mit ihrem Betragen und Entſchließungen zu vergleichen, oder auch dahin dienende Anſchlaͤge zu geben. Die Redensarten: Jch ſehe nun ſchon, wie Cajus ſich die Sache vorſtellt; wenn ich an ſeiner Stelle waͤre, ſo ꝛc. Wer Titium kennt, wird ſich nicht verwundern, daß ꝛc. und mehrere dergleichen, geben die Faͤlle zu erkennen, wo die hier er- waͤhnte Perſpective vorkoͤmmt, und zugleich auch, daß ſie von ſehr haͤufigem Gebrauche iſt, beſonders, wo man jemand ſeinen Jrrthum und den Urſprung deſſel- ben aufklaͤren, ihn zurechte weiſen, ihm Anſchlaͤge ge- ben, oder auch ſein Betragen nach der Billigkeit beur- theilen will.
§. 272. Das Zuruͤckdenken und Ueberlegen unſerer eigenen ſowohl dermaligen als auch ehmals gehabten
Gedan-
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VI. Hauptſtuͤck.
zwungene Nachahmung der Geberden gehoͤrt mit unter
die Vollkommenheiten des Schauſpieles, und wird auch
einem Redner, als ein Mittel, den Vortrag zu beleben,
zur Zierde gerechnet. Hingegen gehoͤrt die Frage von
der Zulaͤßigkeit der Verſtellung in die Sittenlehre, und
wird darinn billig verworfen, wenn ſie zum Nachtheil
anderer gebraucht wird.
§. 271. Das Gedankenreich beut uns ebenfalls
Stoff zu einem betraͤchtlichen Theile der tranſcendenten
Perſpective an. Es geſchieht nicht ſelten, daß wir uns
die Sachen nach demjenigen Geſichtspunkt vorſtellen
muͤſſen, aus welchem ſie andere betrachten, es ſey, daß
wir uns in Gedanken an ihre Stelle ſetzen, oder daß
wir wenigſtens von ihrer Vorſtellungsart uns einen
Begriff machen muͤſſen. Letzteres geſchieht, wenn wir
ſehen oder wenigſtens uns einbilden, daß wir nicht glei-
cher Meynung mit ihnen ſind, oder wenn ihr Verfahren
mit unſerer Gedenkensart nicht uͤbereinkoͤmmt. Erſte-
res aber thun wir, um uns die Umſtaͤnde, worinn an-
dere ſich befinden, lebhafter und vollſtaͤndiger vorzuſtel-
len, und ſie mit ihrem Betragen und Entſchließungen
zu vergleichen, oder auch dahin dienende Anſchlaͤge zu
geben. Die Redensarten: Jch ſehe nun ſchon,
wie Cajus ſich die Sache vorſtellt; wenn ich an
ſeiner Stelle waͤre, ſo ꝛc. Wer Titium kennt,
wird ſich nicht verwundern, daß ꝛc. und mehrere
dergleichen, geben die Faͤlle zu erkennen, wo die hier er-
waͤhnte Perſpective vorkoͤmmt, und zugleich auch, daß
ſie von ſehr haͤufigem Gebrauche iſt, beſonders, wo
man jemand ſeinen Jrrthum und den Urſprung deſſel-
ben aufklaͤren, ihn zurechte weiſen, ihm Anſchlaͤge ge-
ben, oder auch ſein Betragen nach der Billigkeit beur-
theilen will.
§. 272. Das Zuruͤckdenken und Ueberlegen unſerer
eigenen ſowohl dermaligen als auch ehmals gehabten
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/430>, abgerufen am 19.07.2024.
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