Anstand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach- richt anders verstehen, als sie der Aussager will verstan- den wissen. Dieses gehört aber zur Auslegekunst, als welche Mittel angiebt, dem Misverstand vorzubeugen. Ueberhaupt aber hat es in Absicht auf den Willen die Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Grün- de oder Beweggründe dazu haben muß, theils weil es natürlich ist, das, was man denkt, zu sagen, theils weil es jedem Menschen daran gelegen seyn soll, sich nicht durch Unwahrheiten in Gefahr zu setzen, in wahren Aussagen, und wo er es wünschte, nicht mehr Glauben zu finden.
§. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer- den wir nun umständlicher entwickeln können, wie vie- lerley man durch die moralische Gewißheit und moralische Beweise verstehe. Man setzt erstere der geometrischen Gewißheit, letztere aber den geo- metrischen Demonstrationen entgegen, und da können wir anmerken, daß hiebey das Wort geome- trisch sich nicht auf den Stoff, sondern auf die Form und den Zusammenhang der Demonstration be- ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wissen- schaften giebt, die eben solcher Gewißheit und Demon- strationen fähig sind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663. Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieser Bedin- gung das Wort geometrisch beybehalten, und so kön- nen wir verneinensweise jede Gewißheit moralisch nennen, die nicht geometrisch ist, oder nicht aus geo- metrischen Demonstrationen erwächst. Man sieht leicht, daß dieser terminus infinitus mehrere Arten in sich begreifen könne, und diese haben wir hier auf- zusuchen.
§. 250. Zu diesem Ende kehren wir zu der bereits (§. 244.) gemachten Anmerkung zurücke, daß wir näm- lich außer den Demonstrationen noch die Empfin-
dungen
V. Hauptſtuͤck.
Anſtand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach- richt anders verſtehen, als ſie der Ausſager will verſtan- den wiſſen. Dieſes gehoͤrt aber zur Auslegekunſt, als welche Mittel angiebt, dem Misverſtand vorzubeugen. Ueberhaupt aber hat es in Abſicht auf den Willen die Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Gruͤn- de oder Beweggruͤnde dazu haben muß, theils weil es natuͤrlich iſt, das, was man denkt, zu ſagen, theils weil es jedem Menſchen daran gelegen ſeyn ſoll, ſich nicht durch Unwahrheiten in Gefahr zu ſetzen, in wahren Ausſagen, und wo er es wuͤnſchte, nicht mehr Glauben zu finden.
§. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer- den wir nun umſtaͤndlicher entwickeln koͤnnen, wie vie- lerley man durch die moraliſche Gewißheit und moraliſche Beweiſe verſtehe. Man ſetzt erſtere der geometriſchen Gewißheit, letztere aber den geo- metriſchen Demonſtrationen entgegen, und da koͤnnen wir anmerken, daß hiebey das Wort geome- triſch ſich nicht auf den Stoff, ſondern auf die Form und den Zuſammenhang der Demonſtration be- ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wiſſen- ſchaften giebt, die eben ſolcher Gewißheit und Demon- ſtrationen faͤhig ſind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663. Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieſer Bedin- gung das Wort geometriſch beybehalten, und ſo koͤn- nen wir verneinensweiſe jede Gewißheit moraliſch nennen, die nicht geometriſch iſt, oder nicht aus geo- metriſchen Demonſtrationen erwaͤchſt. Man ſieht leicht, daß dieſer terminus infinitus mehrere Arten in ſich begreifen koͤnne, und dieſe haben wir hier auf- zuſuchen.
§. 250. Zu dieſem Ende kehren wir zu der bereits (§. 244.) gemachten Anmerkung zuruͤcke, daß wir naͤm- lich außer den Demonſtrationen noch die Empfin-
dungen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0414"n="408"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">V.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/>
Anſtand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach-<lb/>
richt anders verſtehen, als ſie der Ausſager will verſtan-<lb/>
den wiſſen. Dieſes gehoͤrt aber zur Auslegekunſt, als<lb/>
welche Mittel angiebt, dem Misverſtand vorzubeugen.<lb/>
Ueberhaupt aber hat es in Abſicht auf den Willen die<lb/>
Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Gruͤn-<lb/>
de oder Beweggruͤnde dazu haben muß, theils weil es<lb/>
natuͤrlich iſt, das, was man denkt, zu ſagen, theils weil<lb/>
es jedem Menſchen daran gelegen ſeyn ſoll, ſich nicht<lb/>
durch Unwahrheiten in Gefahr zu ſetzen, in wahren<lb/>
Ausſagen, und wo er es wuͤnſchte, nicht mehr Glauben<lb/>
zu finden.</p><lb/><p>§. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer-<lb/>
den wir nun umſtaͤndlicher entwickeln koͤnnen, wie vie-<lb/>
lerley man durch die <hirendition="#fr">moraliſche Gewißheit</hi> und<lb/><hirendition="#fr">moraliſche Beweiſe</hi> verſtehe. Man ſetzt erſtere der<lb/><hirendition="#fr">geometriſchen Gewißheit,</hi> letztere aber den <hirendition="#fr">geo-<lb/>
metriſchen Demonſtrationen</hi> entgegen, und da<lb/>
koͤnnen wir anmerken, daß hiebey das Wort <hirendition="#fr">geome-<lb/>
triſch</hi>ſich nicht auf den <hirendition="#fr">Stoff,</hi>ſondern auf die <hirendition="#fr">Form</hi><lb/>
und den <hirendition="#fr">Zuſammenhang</hi> der Demonſtration be-<lb/>
ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wiſſen-<lb/>ſchaften giebt, die eben ſolcher Gewißheit und Demon-<lb/>ſtrationen faͤhig ſind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663.<lb/>
Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieſer Bedin-<lb/>
gung das Wort <hirendition="#fr">geometriſch</hi> beybehalten, und ſo koͤn-<lb/>
nen wir verneinensweiſe jede Gewißheit <hirendition="#fr">moraliſch</hi><lb/>
nennen, die nicht <hirendition="#fr">geometriſch</hi> iſt, oder nicht aus geo-<lb/>
metriſchen Demonſtrationen erwaͤchſt. Man ſieht<lb/>
leicht, daß dieſer <hirendition="#aq">terminus <hirendition="#i">infinitus</hi></hi> mehrere Arten<lb/>
in ſich begreifen koͤnne, und dieſe haben wir hier auf-<lb/>
zuſuchen.</p><lb/><p>§. 250. Zu dieſem Ende kehren wir zu der bereits<lb/>
(§. 244.) gemachten Anmerkung zuruͤcke, daß wir naͤm-<lb/>
lich außer den Demonſtrationen noch die <hirendition="#fr">Empfin-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">dungen</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[408/0414]
V. Hauptſtuͤck.
Anſtand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach-
richt anders verſtehen, als ſie der Ausſager will verſtan-
den wiſſen. Dieſes gehoͤrt aber zur Auslegekunſt, als
welche Mittel angiebt, dem Misverſtand vorzubeugen.
Ueberhaupt aber hat es in Abſicht auf den Willen die
Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Gruͤn-
de oder Beweggruͤnde dazu haben muß, theils weil es
natuͤrlich iſt, das, was man denkt, zu ſagen, theils weil
es jedem Menſchen daran gelegen ſeyn ſoll, ſich nicht
durch Unwahrheiten in Gefahr zu ſetzen, in wahren
Ausſagen, und wo er es wuͤnſchte, nicht mehr Glauben
zu finden.
§. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer-
den wir nun umſtaͤndlicher entwickeln koͤnnen, wie vie-
lerley man durch die moraliſche Gewißheit und
moraliſche Beweiſe verſtehe. Man ſetzt erſtere der
geometriſchen Gewißheit, letztere aber den geo-
metriſchen Demonſtrationen entgegen, und da
koͤnnen wir anmerken, daß hiebey das Wort geome-
triſch ſich nicht auf den Stoff, ſondern auf die Form
und den Zuſammenhang der Demonſtration be-
ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wiſſen-
ſchaften giebt, die eben ſolcher Gewißheit und Demon-
ſtrationen faͤhig ſind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663.
Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieſer Bedin-
gung das Wort geometriſch beybehalten, und ſo koͤn-
nen wir verneinensweiſe jede Gewißheit moraliſch
nennen, die nicht geometriſch iſt, oder nicht aus geo-
metriſchen Demonſtrationen erwaͤchſt. Man ſieht
leicht, daß dieſer terminus infinitus mehrere Arten
in ſich begreifen koͤnne, und dieſe haben wir hier auf-
zuſuchen.
§. 250. Zu dieſem Ende kehren wir zu der bereits
(§. 244.) gemachten Anmerkung zuruͤcke, daß wir naͤm-
lich außer den Demonſtrationen noch die Empfin-
dungen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/414>, abgerufen am 18.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.