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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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V. Hauptstück.
Gedächtniß und die durch Uebung erlangte Kenntniß
von Sachen gleicher Art sind Erfordernisse, ohne die
ein Zeuge, auch wenn er die Wahrheit sagen will, der-
selben leicht verfehlt, zumal wenn auch Affecten sich mit
einmengen, deren Einfluß in die Erkenntniß der Wahr-
heit wir in vorhergehendem Hauptstücke umständlicher
betrachtet haben. Es ist auch hinwiederum für sich klar,
daß wenn es dem Zeugen am Willen fehlt, die Wahr-
heit zu sagen, der Grund davon ebenfalls in wahren
oder irrigen Vorstellungen liege, wodurch Affecten ihm
den Willen anders lenken, und durch eine größere Hef-
tigkeit in der Erzählung die Erzählung an sich schon da-
durch verdächtig machen, daß sie, wo nicht ganz falsch,
doch verstellt und übertrieben sey.

§. 234. Jndessen muß es dem Zeugen weder an
der Erkenntniß noch am Willen fehlen, wenn seine
Glaubwürdigkeit = 1, oder vollständig seyn solle. Das
erstere entscheidet sich aus der Vergleichung der Nach-
richt oder der Erzählung mit der Fähigkeit des Erzäh-
lenden, und dabey muß die Erzählung stückweise be-
trachtet werden, wenn sie aus mehrern besteht. Sodann
muß man untersuchen, ob der Zeuge nicht mehr sagt,
als er wirklich hat sehen oder empfinden können? Dieß
geschieht 1. wenn er Schlüsse aus den Empfindungen
mit in die Erzählung mengt. 2. Wenn er den empfun-
denen Sachen Namen giebt, die mehr in sich begreifen,
als man empfinden kann, z. E. bey Handlungen die Ab-
sicht und Moralität. Jm ersten Fall muß man die
Schlüsse weglassen, im andern Fall aber statt der in der
Erzählung gebrauchten Wörter solche dafür nehmen, die
nicht mehr angeben, als der Erzählende wirklich hat
empfinden können. 3. Wenn der Erzählende statt des
Scheins, den die Empfindung darbeut, das erzählt, was
er dabey für das Wahre und Reale ansieht. Da muß
man seine Sprache ebenfalls wiederum in die Sprache

des

V. Hauptſtuͤck.
Gedaͤchtniß und die durch Uebung erlangte Kenntniß
von Sachen gleicher Art ſind Erforderniſſe, ohne die
ein Zeuge, auch wenn er die Wahrheit ſagen will, der-
ſelben leicht verfehlt, zumal wenn auch Affecten ſich mit
einmengen, deren Einfluß in die Erkenntniß der Wahr-
heit wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke umſtaͤndlicher
betrachtet haben. Es iſt auch hinwiederum fuͤr ſich klar,
daß wenn es dem Zeugen am Willen fehlt, die Wahr-
heit zu ſagen, der Grund davon ebenfalls in wahren
oder irrigen Vorſtellungen liege, wodurch Affecten ihm
den Willen anders lenken, und durch eine groͤßere Hef-
tigkeit in der Erzaͤhlung die Erzaͤhlung an ſich ſchon da-
durch verdaͤchtig machen, daß ſie, wo nicht ganz falſch,
doch verſtellt und uͤbertrieben ſey.

§. 234. Jndeſſen muß es dem Zeugen weder an
der Erkenntniß noch am Willen fehlen, wenn ſeine
Glaubwuͤrdigkeit = 1, oder vollſtaͤndig ſeyn ſolle. Das
erſtere entſcheidet ſich aus der Vergleichung der Nach-
richt oder der Erzaͤhlung mit der Faͤhigkeit des Erzaͤh-
lenden, und dabey muß die Erzaͤhlung ſtuͤckweiſe be-
trachtet werden, wenn ſie aus mehrern beſteht. Sodann
muß man unterſuchen, ob der Zeuge nicht mehr ſagt,
als er wirklich hat ſehen oder empfinden koͤnnen? Dieß
geſchieht 1. wenn er Schluͤſſe aus den Empfindungen
mit in die Erzaͤhlung mengt. 2. Wenn er den empfun-
denen Sachen Namen giebt, die mehr in ſich begreifen,
als man empfinden kann, z. E. bey Handlungen die Ab-
ſicht und Moralitaͤt. Jm erſten Fall muß man die
Schluͤſſe weglaſſen, im andern Fall aber ſtatt der in der
Erzaͤhlung gebrauchten Woͤrter ſolche dafuͤr nehmen, die
nicht mehr angeben, als der Erzaͤhlende wirklich hat
empfinden koͤnnen. 3. Wenn der Erzaͤhlende ſtatt des
Scheins, den die Empfindung darbeut, das erzaͤhlt, was
er dabey fuͤr das Wahre und Reale anſieht. Da muß
man ſeine Sprache ebenfalls wiederum in die Sprache

des
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[396/0402] V. Hauptſtuͤck. Gedaͤchtniß und die durch Uebung erlangte Kenntniß von Sachen gleicher Art ſind Erforderniſſe, ohne die ein Zeuge, auch wenn er die Wahrheit ſagen will, der- ſelben leicht verfehlt, zumal wenn auch Affecten ſich mit einmengen, deren Einfluß in die Erkenntniß der Wahr- heit wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke umſtaͤndlicher betrachtet haben. Es iſt auch hinwiederum fuͤr ſich klar, daß wenn es dem Zeugen am Willen fehlt, die Wahr- heit zu ſagen, der Grund davon ebenfalls in wahren oder irrigen Vorſtellungen liege, wodurch Affecten ihm den Willen anders lenken, und durch eine groͤßere Hef- tigkeit in der Erzaͤhlung die Erzaͤhlung an ſich ſchon da- durch verdaͤchtig machen, daß ſie, wo nicht ganz falſch, doch verſtellt und uͤbertrieben ſey. §. 234. Jndeſſen muß es dem Zeugen weder an der Erkenntniß noch am Willen fehlen, wenn ſeine Glaubwuͤrdigkeit = 1, oder vollſtaͤndig ſeyn ſolle. Das erſtere entſcheidet ſich aus der Vergleichung der Nach- richt oder der Erzaͤhlung mit der Faͤhigkeit des Erzaͤh- lenden, und dabey muß die Erzaͤhlung ſtuͤckweiſe be- trachtet werden, wenn ſie aus mehrern beſteht. Sodann muß man unterſuchen, ob der Zeuge nicht mehr ſagt, als er wirklich hat ſehen oder empfinden koͤnnen? Dieß geſchieht 1. wenn er Schluͤſſe aus den Empfindungen mit in die Erzaͤhlung mengt. 2. Wenn er den empfun- denen Sachen Namen giebt, die mehr in ſich begreifen, als man empfinden kann, z. E. bey Handlungen die Ab- ſicht und Moralitaͤt. Jm erſten Fall muß man die Schluͤſſe weglaſſen, im andern Fall aber ſtatt der in der Erzaͤhlung gebrauchten Woͤrter ſolche dafuͤr nehmen, die nicht mehr angeben, als der Erzaͤhlende wirklich hat empfinden koͤnnen. 3. Wenn der Erzaͤhlende ſtatt des Scheins, den die Empfindung darbeut, das erzaͤhlt, was er dabey fuͤr das Wahre und Reale anſieht. Da muß man ſeine Sprache ebenfalls wiederum in die Sprache des

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/402>, abgerufen am 27.11.2024.