Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von dem Wahrscheinlichen
zuwenden beyfällt. Wir gebrauchen den Ausdruck:
allem Ansehen nach, wenn wir aus Betrachtung
der Sache und ihrer Umstände, wie sie uns vorkom-
men, das Urtheil zu fällen geneigt gemacht werden.
Der Ausdruck glaublich geht auf den Beyfall, den
wir einer Aussage geben, wenn wir auf die Vorstellung
der Sache mit sehen. Vermuthlich bezieht sich
schlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa-
che machen, zumal wenn sie künftig oder auch abwe-
send ist. Wahrscheinlich aber geht mehr auf die
Gründe, die wir haben, daß ehender die Sache als das
Gegentheil wahr oder wirklich sey oder seyn werde etc.

§. 150. Da man sich aber besonders im gemeinen
Leben an die Unterschiede dieser Wörter so genau nicht
bindet, so hat man auch statt aller den Begriff des
Wahrscheinlichen allein herausgenommen, und mit
der diesem Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene
Bedeutung der übrigen vermengt. Ueberdieß hat man
dem Begriff der geometrischen Gewißheit den
Begriff der moralischen Gewißheit bald an die
Seite, bald entgegengesetzt, und im letzten Fall alles,
was nicht nach geometrischer Schärfe erwiesen werden
konnte, schlechthin nur für wahrscheinlich ausgegeben,
im ersten Fall aber behauptet, daß die moralische Ge-
wißheit der geometrischen im geringsten nichts nachge-
be, und nur der Art nach davon verschieden sey. Die
einzelen Theile der moralischen Beweise, sofern diese
den Demonstrationen entgegengesetzt wurden, hat man
Argumente genennt, und sie in beweisende und an-
zeigende,
probantia et indicantia, unterschieden, ohne
immer auf den Unterschied zu sehen, ob es Argumen-
te für den Verstand
oder Argumente für den
Willen, Gründe
oder Beweggründe sind. Alles
dieses sind Umstände, wo wir uns nicht an die Worte,
sondern an die Sache selbst halten müssen, wenn wir

sie

Von dem Wahrſcheinlichen
zuwenden beyfaͤllt. Wir gebrauchen den Ausdruck:
allem Anſehen nach, wenn wir aus Betrachtung
der Sache und ihrer Umſtaͤnde, wie ſie uns vorkom-
men, das Urtheil zu faͤllen geneigt gemacht werden.
Der Ausdruck glaublich geht auf den Beyfall, den
wir einer Ausſage geben, wenn wir auf die Vorſtellung
der Sache mit ſehen. Vermuthlich bezieht ſich
ſchlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa-
che machen, zumal wenn ſie kuͤnftig oder auch abwe-
ſend iſt. Wahrſcheinlich aber geht mehr auf die
Gruͤnde, die wir haben, daß ehender die Sache als das
Gegentheil wahr oder wirklich ſey oder ſeyn werde ꝛc.

§. 150. Da man ſich aber beſonders im gemeinen
Leben an die Unterſchiede dieſer Woͤrter ſo genau nicht
bindet, ſo hat man auch ſtatt aller den Begriff des
Wahrſcheinlichen allein herausgenommen, und mit
der dieſem Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene
Bedeutung der uͤbrigen vermengt. Ueberdieß hat man
dem Begriff der geometriſchen Gewißheit den
Begriff der moraliſchen Gewißheit bald an die
Seite, bald entgegengeſetzt, und im letzten Fall alles,
was nicht nach geometriſcher Schaͤrfe erwieſen werden
konnte, ſchlechthin nur fuͤr wahrſcheinlich ausgegeben,
im erſten Fall aber behauptet, daß die moraliſche Ge-
wißheit der geometriſchen im geringſten nichts nachge-
be, und nur der Art nach davon verſchieden ſey. Die
einzelen Theile der moraliſchen Beweiſe, ſofern dieſe
den Demonſtrationen entgegengeſetzt wurden, hat man
Argumente genennt, und ſie in beweiſende und an-
zeigende,
probantia et indicantia, unterſchieden, ohne
immer auf den Unterſchied zu ſehen, ob es Argumen-
te fuͤr den Verſtand
oder Argumente fuͤr den
Willen, Gruͤnde
oder Beweggruͤnde ſind. Alles
dieſes ſind Umſtaͤnde, wo wir uns nicht an die Worte,
ſondern an die Sache ſelbſt halten muͤſſen, wenn wir

ſie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0325" n="319"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem Wahr&#x017F;cheinlichen</hi></fw><lb/>
zuwenden beyfa&#x0364;llt. Wir gebrauchen den Ausdruck:<lb/><hi rendition="#fr">allem An&#x017F;ehen nach,</hi> wenn wir aus Betrachtung<lb/>
der Sache und ihrer Um&#x017F;ta&#x0364;nde, wie &#x017F;ie uns vorkom-<lb/>
men, das Urtheil zu fa&#x0364;llen geneigt gemacht werden.<lb/>
Der Ausdruck <hi rendition="#fr">glaublich</hi> geht auf den Beyfall, den<lb/>
wir einer Aus&#x017F;age geben, wenn wir auf die Vor&#x017F;tellung<lb/>
der Sache mit &#x017F;ehen. <hi rendition="#fr">Vermuthlich</hi> bezieht &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa-<lb/>
che machen, zumal wenn &#x017F;ie ku&#x0364;nftig oder auch abwe-<lb/>
&#x017F;end i&#x017F;t. <hi rendition="#fr">Wahr&#x017F;cheinlich</hi> aber geht mehr auf die<lb/>
Gru&#x0364;nde, die wir haben, daß ehender die Sache als das<lb/>
Gegentheil wahr oder wirklich &#x017F;ey oder &#x017F;eyn werde &#xA75B;c.</p><lb/>
          <p>§. 150. Da man &#x017F;ich aber be&#x017F;onders im gemeinen<lb/>
Leben an die Unter&#x017F;chiede die&#x017F;er Wo&#x0364;rter &#x017F;o genau nicht<lb/>
bindet, &#x017F;o hat man auch &#x017F;tatt aller den Begriff des<lb/><hi rendition="#fr">Wahr&#x017F;cheinlichen</hi> allein herausgenommen, und mit<lb/>
der die&#x017F;em Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene<lb/>
Bedeutung der u&#x0364;brigen vermengt. Ueberdieß hat man<lb/>
dem Begriff der <hi rendition="#fr">geometri&#x017F;chen Gewißheit</hi> den<lb/>
Begriff der <hi rendition="#fr">morali&#x017F;chen Gewißheit</hi> bald an die<lb/>
Seite, bald entgegenge&#x017F;etzt, und im letzten Fall alles,<lb/>
was nicht nach geometri&#x017F;cher Scha&#x0364;rfe erwie&#x017F;en werden<lb/>
konnte, &#x017F;chlechthin nur fu&#x0364;r wahr&#x017F;cheinlich ausgegeben,<lb/>
im er&#x017F;ten Fall aber behauptet, daß die morali&#x017F;che Ge-<lb/>
wißheit der geometri&#x017F;chen im gering&#x017F;ten nichts nachge-<lb/>
be, und nur der Art nach davon ver&#x017F;chieden &#x017F;ey. Die<lb/>
einzelen Theile der morali&#x017F;chen Bewei&#x017F;e, &#x017F;ofern die&#x017F;e<lb/>
den Demon&#x017F;trationen entgegenge&#x017F;etzt wurden, hat man<lb/><hi rendition="#fr">Argumente</hi> genennt, und &#x017F;ie in <hi rendition="#fr">bewei&#x017F;ende</hi> und <hi rendition="#fr">an-<lb/>
zeigende,</hi> <hi rendition="#aq">probantia et indicantia,</hi> unter&#x017F;chieden, ohne<lb/>
immer auf den Unter&#x017F;chied zu &#x017F;ehen, ob es <hi rendition="#fr">Argumen-<lb/>
te fu&#x0364;r den Ver&#x017F;tand</hi> oder <hi rendition="#fr">Argumente fu&#x0364;r den<lb/>
Willen, Gru&#x0364;nde</hi> oder <hi rendition="#fr">Beweggru&#x0364;nde</hi> &#x017F;ind. Alles<lb/>
die&#x017F;es &#x017F;ind Um&#x017F;ta&#x0364;nde, wo wir uns nicht an die Worte,<lb/>
&#x017F;ondern an die Sache &#x017F;elb&#x017F;t halten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wenn wir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ie</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0325] Von dem Wahrſcheinlichen zuwenden beyfaͤllt. Wir gebrauchen den Ausdruck: allem Anſehen nach, wenn wir aus Betrachtung der Sache und ihrer Umſtaͤnde, wie ſie uns vorkom- men, das Urtheil zu faͤllen geneigt gemacht werden. Der Ausdruck glaublich geht auf den Beyfall, den wir einer Ausſage geben, wenn wir auf die Vorſtellung der Sache mit ſehen. Vermuthlich bezieht ſich ſchlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa- che machen, zumal wenn ſie kuͤnftig oder auch abwe- ſend iſt. Wahrſcheinlich aber geht mehr auf die Gruͤnde, die wir haben, daß ehender die Sache als das Gegentheil wahr oder wirklich ſey oder ſeyn werde ꝛc. §. 150. Da man ſich aber beſonders im gemeinen Leben an die Unterſchiede dieſer Woͤrter ſo genau nicht bindet, ſo hat man auch ſtatt aller den Begriff des Wahrſcheinlichen allein herausgenommen, und mit der dieſem Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene Bedeutung der uͤbrigen vermengt. Ueberdieß hat man dem Begriff der geometriſchen Gewißheit den Begriff der moraliſchen Gewißheit bald an die Seite, bald entgegengeſetzt, und im letzten Fall alles, was nicht nach geometriſcher Schaͤrfe erwieſen werden konnte, ſchlechthin nur fuͤr wahrſcheinlich ausgegeben, im erſten Fall aber behauptet, daß die moraliſche Ge- wißheit der geometriſchen im geringſten nichts nachge- be, und nur der Art nach davon verſchieden ſey. Die einzelen Theile der moraliſchen Beweiſe, ſofern dieſe den Demonſtrationen entgegengeſetzt wurden, hat man Argumente genennt, und ſie in beweiſende und an- zeigende, probantia et indicantia, unterſchieden, ohne immer auf den Unterſchied zu ſehen, ob es Argumen- te fuͤr den Verſtand oder Argumente fuͤr den Willen, Gruͤnde oder Beweggruͤnde ſind. Alles dieſes ſind Umſtaͤnde, wo wir uns nicht an die Worte, ſondern an die Sache ſelbſt halten muͤſſen, wenn wir ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/325
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/325>, abgerufen am 23.11.2024.