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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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IV. Hauptstück.
unfähig machen. Wer sich selbst so weit besitzt, daß
er sich auch auf die unerwartetesten Fälle gefaßt macht,
und sich daher von Verwunderung, Erstaunen,
Schrecken
etc. nicht irre machen läßt, der bleibt aller-
dings zum Beobachten, zu Entschließungen und Hand-
lungen aufgelegt, wenn andere Verwirrung in dem
Verstande, Unentschlossenheit und Verlegenheit im
Wollen, und Zerschlagenheit in den Kräften empfinden.
Horaz scheint dieses mit seinem Nil admirari anzuzei-
gen, und in der That muß man sich, wenn man anders
die Vortheile eines ruhigen Zuschauers erhalten will,
nichts übernehmen lassen, und auch zu dem Unerwarte-
ten voraus gefaßt seyn. Man kömmt dadurch leichter
auf das Wesentliche einer Sache, weil man die Neben-
umstände, die dabey nichts zu sagen haben, und nur
Folgen oder Zufälligkeiten sind, ehender erkennen und
weglassen kann. Ein von Natur ruhiges Gemüth und
empfindlichere Sinnen helfen ungemein viel zu einer
ausgedehntern und richtigern Erkenntniß.

§. 147. Die Liebe und der Haß, so ferne sie auf
Sachen und Personen gerichtet sind, haben in Absicht
auf die Erkenntniß den Erfolg, daß man an dem Ge-
liebten die schlechtere, an dem Gehaßten die bessere Sei-
te nicht gern glaubt, und öfters wider die, so sie aufdek-
ken, böse wird, und ungläubig bleibt. Lieben und ver-
achten, und so auch hassen und verehren findet sich
nicht wohl beysammen. Die Vorstellung, daß die
Sachen sind, wie sie sind, so gern wir es an-
ders hätten,
muß dieses Blendwerk der Affecten über-
wiegen, zumal wenn man mitnimmt, daß die Erkennt-
niß der Fehler an dem Geliebten zur Besserung dessel-
ben gebraucht, die Erkenntniß des Guten an dem Ge-
haßten zur Verminderung dieses an sich widrigen Affe-
ctes angewandt, das Gute selbst auch öfters genutzt
werden könne. Es ist für sich klar, daß diese Betrach-

tung

IV. Hauptſtuͤck.
unfaͤhig machen. Wer ſich ſelbſt ſo weit beſitzt, daß
er ſich auch auf die unerwarteteſten Faͤlle gefaßt macht,
und ſich daher von Verwunderung, Erſtaunen,
Schrecken
ꝛc. nicht irre machen laͤßt, der bleibt aller-
dings zum Beobachten, zu Entſchließungen und Hand-
lungen aufgelegt, wenn andere Verwirrung in dem
Verſtande, Unentſchloſſenheit und Verlegenheit im
Wollen, und Zerſchlagenheit in den Kraͤften empfinden.
Horaz ſcheint dieſes mit ſeinem Nil admirari anzuzei-
gen, und in der That muß man ſich, wenn man anders
die Vortheile eines ruhigen Zuſchauers erhalten will,
nichts uͤbernehmen laſſen, und auch zu dem Unerwarte-
ten voraus gefaßt ſeyn. Man koͤmmt dadurch leichter
auf das Weſentliche einer Sache, weil man die Neben-
umſtaͤnde, die dabey nichts zu ſagen haben, und nur
Folgen oder Zufaͤlligkeiten ſind, ehender erkennen und
weglaſſen kann. Ein von Natur ruhiges Gemuͤth und
empfindlichere Sinnen helfen ungemein viel zu einer
ausgedehntern und richtigern Erkenntniß.

§. 147. Die Liebe und der Haß, ſo ferne ſie auf
Sachen und Perſonen gerichtet ſind, haben in Abſicht
auf die Erkenntniß den Erfolg, daß man an dem Ge-
liebten die ſchlechtere, an dem Gehaßten die beſſere Sei-
te nicht gern glaubt, und oͤfters wider die, ſo ſie aufdek-
ken, boͤſe wird, und unglaͤubig bleibt. Lieben und ver-
achten, und ſo auch haſſen und verehren findet ſich
nicht wohl beyſammen. Die Vorſtellung, daß die
Sachen ſind, wie ſie ſind, ſo gern wir es an-
ders haͤtten,
muß dieſes Blendwerk der Affecten uͤber-
wiegen, zumal wenn man mitnimmt, daß die Erkennt-
niß der Fehler an dem Geliebten zur Beſſerung deſſel-
ben gebraucht, die Erkenntniß des Guten an dem Ge-
haßten zur Verminderung dieſes an ſich widrigen Affe-
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[316/0322] IV. Hauptſtuͤck. unfaͤhig machen. Wer ſich ſelbſt ſo weit beſitzt, daß er ſich auch auf die unerwarteteſten Faͤlle gefaßt macht, und ſich daher von Verwunderung, Erſtaunen, Schrecken ꝛc. nicht irre machen laͤßt, der bleibt aller- dings zum Beobachten, zu Entſchließungen und Hand- lungen aufgelegt, wenn andere Verwirrung in dem Verſtande, Unentſchloſſenheit und Verlegenheit im Wollen, und Zerſchlagenheit in den Kraͤften empfinden. Horaz ſcheint dieſes mit ſeinem Nil admirari anzuzei- gen, und in der That muß man ſich, wenn man anders die Vortheile eines ruhigen Zuſchauers erhalten will, nichts uͤbernehmen laſſen, und auch zu dem Unerwarte- ten voraus gefaßt ſeyn. Man koͤmmt dadurch leichter auf das Weſentliche einer Sache, weil man die Neben- umſtaͤnde, die dabey nichts zu ſagen haben, und nur Folgen oder Zufaͤlligkeiten ſind, ehender erkennen und weglaſſen kann. Ein von Natur ruhiges Gemuͤth und empfindlichere Sinnen helfen ungemein viel zu einer ausgedehntern und richtigern Erkenntniß. §. 147. Die Liebe und der Haß, ſo ferne ſie auf Sachen und Perſonen gerichtet ſind, haben in Abſicht auf die Erkenntniß den Erfolg, daß man an dem Ge- liebten die ſchlechtere, an dem Gehaßten die beſſere Sei- te nicht gern glaubt, und oͤfters wider die, ſo ſie aufdek- ken, boͤſe wird, und unglaͤubig bleibt. Lieben und ver- achten, und ſo auch haſſen und verehren findet ſich nicht wohl beyſammen. Die Vorſtellung, daß die Sachen ſind, wie ſie ſind, ſo gern wir es an- ders haͤtten, muß dieſes Blendwerk der Affecten uͤber- wiegen, zumal wenn man mitnimmt, daß die Erkennt- niß der Fehler an dem Geliebten zur Beſſerung deſſel- ben gebraucht, die Erkenntniß des Guten an dem Ge- haßten zur Verminderung dieſes an ſich widrigen Affe- ctes angewandt, das Gute ſelbſt auch oͤfters genutzt werden koͤnne. Es iſt fuͤr ſich klar, daß dieſe Betrach- tung

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/322>, abgerufen am 23.11.2024.