Absicht auf die Erkenntniß Seiten der Sachen, wo man sich mit dem Schein behilft, oder es dabey bewen- den läßt, andere, wo man auf das Wahre dringt, und noch andere, die man ganz unbemerkt läßt, es sey daß sie zu viele Mühe fordern würden, oder daß man sie ungern aufdeckt. Ueberhaupt macht man sich die Din- ge und ihre Seiten bekannter, die man sich lieber vor- stellt, und daraus entstehen in Absicht auf das Wah- re, besonders aber auch in Absicht auf das Gute, Lü- cken in der Erkenntniß, die nicht selten nachtheilig sind (§. 130. 18.).
§. 138. Es bleibt aber dabey nicht bloß bey den Lücken, sondern die Affecten helfen sie öfters so ausfül- len, daß die Vorstellung von der Sache selbst ganz ver- schieden wird. Auf diese Art stellt man sich eine Hand- lung, so man jemand thun sieht, ganz vor, wenn man gleich nur das Aeußerliche oder einen Theil davon ge- sehen, aus welchem sich weder unmittelbar auf das Ganze, noch auf die Absicht und den Grund derselben schließen läßt. Und dieses kann geschehen, ohne daß man sich eines Vorsatzes bewußt sey, die Sache besser oder schlimmer auszudeuten als sie wirklich ist. Denn die Affecten treiben, ohne daß man nöthig habe, mit Ueberlegung einen Vorsatz zu fassen. Ueberdieß haben viele Sachen außer ihrem eigenen Namen noch andere, die sie von der bessern oder schlimmern Seite vorstellen, und da ist es ganz natürlich, daß die Affecten unver- merkt die Auswahl des Namens bestimmen, und der eigene selten dazu gewählt wird. So werden auch ei- nem Menschen, der sich mit Bewußtseyn an die Gren- zen des Erlaubten hinauswagt, ohne sie zu überschreiten, seine Handlungen von andern, die ohne Bedenken darü- ber hinausschweifen, oder auch diese Grenzen viel enger setzen, auf eine ganz verschiedene Art ausgelegt werden. Letztere verdammen ihn, erstere aber messen ihn nach
ihrer
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Von dem moraliſchen Schein.
Abſicht auf die Erkenntniß Seiten der Sachen, wo man ſich mit dem Schein behilft, oder es dabey bewen- den laͤßt, andere, wo man auf das Wahre dringt, und noch andere, die man ganz unbemerkt laͤßt, es ſey daß ſie zu viele Muͤhe fordern wuͤrden, oder daß man ſie ungern aufdeckt. Ueberhaupt macht man ſich die Din- ge und ihre Seiten bekannter, die man ſich lieber vor- ſtellt, und daraus entſtehen in Abſicht auf das Wah- re, beſonders aber auch in Abſicht auf das Gute, Luͤ- cken in der Erkenntniß, die nicht ſelten nachtheilig ſind (§. 130. 18.).
§. 138. Es bleibt aber dabey nicht bloß bey den Luͤcken, ſondern die Affecten helfen ſie oͤfters ſo ausfuͤl- len, daß die Vorſtellung von der Sache ſelbſt ganz ver- ſchieden wird. Auf dieſe Art ſtellt man ſich eine Hand- lung, ſo man jemand thun ſieht, ganz vor, wenn man gleich nur das Aeußerliche oder einen Theil davon ge- ſehen, aus welchem ſich weder unmittelbar auf das Ganze, noch auf die Abſicht und den Grund derſelben ſchließen laͤßt. Und dieſes kann geſchehen, ohne daß man ſich eines Vorſatzes bewußt ſey, die Sache beſſer oder ſchlimmer auszudeuten als ſie wirklich iſt. Denn die Affecten treiben, ohne daß man noͤthig habe, mit Ueberlegung einen Vorſatz zu faſſen. Ueberdieß haben viele Sachen außer ihrem eigenen Namen noch andere, die ſie von der beſſern oder ſchlimmern Seite vorſtellen, und da iſt es ganz natuͤrlich, daß die Affecten unver- merkt die Auswahl des Namens beſtimmen, und der eigene ſelten dazu gewaͤhlt wird. So werden auch ei- nem Menſchen, der ſich mit Bewußtſeyn an die Gren- zen des Erlaubten hinauswagt, ohne ſie zu uͤberſchreiten, ſeine Handlungen von andern, die ohne Bedenken daruͤ- ber hinausſchweifen, oder auch dieſe Grenzen viel enger ſetzen, auf eine ganz verſchiedene Art ausgelegt werden. Letztere verdammen ihn, erſtere aber meſſen ihn nach
ihrer
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Von dem moraliſchen Schein.
Abſicht auf die Erkenntniß Seiten der Sachen, wo
man ſich mit dem Schein behilft, oder es dabey bewen-
den laͤßt, andere, wo man auf das Wahre dringt, und
noch andere, die man ganz unbemerkt laͤßt, es ſey daß
ſie zu viele Muͤhe fordern wuͤrden, oder daß man ſie
ungern aufdeckt. Ueberhaupt macht man ſich die Din-
ge und ihre Seiten bekannter, die man ſich lieber vor-
ſtellt, und daraus entſtehen in Abſicht auf das Wah-
re, beſonders aber auch in Abſicht auf das Gute, Luͤ-
cken in der Erkenntniß, die nicht ſelten nachtheilig ſind
(§. 130. 18.).
§. 138. Es bleibt aber dabey nicht bloß bey den
Luͤcken, ſondern die Affecten helfen ſie oͤfters ſo ausfuͤl-
len, daß die Vorſtellung von der Sache ſelbſt ganz ver-
ſchieden wird. Auf dieſe Art ſtellt man ſich eine Hand-
lung, ſo man jemand thun ſieht, ganz vor, wenn man
gleich nur das Aeußerliche oder einen Theil davon ge-
ſehen, aus welchem ſich weder unmittelbar auf das
Ganze, noch auf die Abſicht und den Grund derſelben
ſchließen laͤßt. Und dieſes kann geſchehen, ohne daß
man ſich eines Vorſatzes bewußt ſey, die Sache beſſer
oder ſchlimmer auszudeuten als ſie wirklich iſt. Denn
die Affecten treiben, ohne daß man noͤthig habe, mit
Ueberlegung einen Vorſatz zu faſſen. Ueberdieß haben
viele Sachen außer ihrem eigenen Namen noch andere,
die ſie von der beſſern oder ſchlimmern Seite vorſtellen,
und da iſt es ganz natuͤrlich, daß die Affecten unver-
merkt die Auswahl des Namens beſtimmen, und der
eigene ſelten dazu gewaͤhlt wird. So werden auch ei-
nem Menſchen, der ſich mit Bewußtſeyn an die Gren-
zen des Erlaubten hinauswagt, ohne ſie zu uͤberſchreiten,
ſeine Handlungen von andern, die ohne Bedenken daruͤ-
ber hinausſchweifen, oder auch dieſe Grenzen viel enger
ſetzen, auf eine ganz verſchiedene Art ausgelegt werden.
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/315>, abgerufen am 16.07.2024.
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