gleichsam umnebelt, daß das Bewußtseyn davon schwächer oder ganz verdunkelt ist. Dieses Umnebeln ist in solchen Fällen eine längst eingeführte Metapher. Bey starken Getränken scheint es dem buchstäblichen Verstande nach vorzukommen, und es ist kaum zu zwei- feln, daß es bey stärkern sinnlichen Leidenschaften nicht auch sey, weil sie ihre Wirkung auf die Gebärden, Ge- sichtszüge und den ganzen Leib erstrecken.
§. 134. Die von dem Willen abhängenden Bewe- gungen des Leibes und jeder Theile rühren ursprünglich ebenfalls aus dem Gehirne her, und sind daselbst mit den Bewegungen, die das Bewußtseyn der Empfindungen verursachen, ebenfalls in Verbindung. Die Leichtigkeit derselben, ihre Grade, die allmählich bis zum Schmer- zen gehende Ermüdung, die dadurch veranlaßte Begier- de nach der Ruhe, und selbst das Erquickende des Aus- ruhens, sind Proben davon. Da man auch des zu lange anhaltenden Nachdenkens müde werden kann, und Ruhe und Zerstreuung der Gedanken suchen muß, so scheint, daß auch der Gebrauch der Erkenntniß- kräfte darinn dem Gebrauche der Leibeskräfte ähnlich sey, daß sie sich ermüden, und bey beyden die stärkere Ermüdung durch den Schlaf muß ersetzt werden.
§. 135. Alles dieses ist bey verschiedenen Menschen verschieden, und die individualen Bestimmungen, so sich bey denselben finden, machen von Kindheit auf die erste Anlage zu den Charaktern einzelner Menschen aus. Die Nahrung, die Lebensart und die Erziehung helfen diese erste Anlage vollends ausbilden, und sie in vielerley Ab- sichten und einzelnen Theilen besser oder schlechter ma- chen. Einige sind feinerer Empfindungen fähig, an- dere zu dem Gebrauche der untern, andere zu dem Ge- brauche der obern Erkenntnißkräfte mehr aufgelegt. Bey einigen scheint ein beständiger Nebel im Gehirne die feinern Empfindungen zu hemmen, und den Verstand
und
IV. Hauptſtuͤck.
gleichſam umnebelt, daß das Bewußtſeyn davon ſchwaͤcher oder ganz verdunkelt iſt. Dieſes Umnebeln iſt in ſolchen Faͤllen eine laͤngſt eingefuͤhrte Metapher. Bey ſtarken Getraͤnken ſcheint es dem buchſtaͤblichen Verſtande nach vorzukommen, und es iſt kaum zu zwei- feln, daß es bey ſtaͤrkern ſinnlichen Leidenſchaften nicht auch ſey, weil ſie ihre Wirkung auf die Gebaͤrden, Ge- ſichtszuͤge und den ganzen Leib erſtrecken.
§. 134. Die von dem Willen abhaͤngenden Bewe- gungen des Leibes und jeder Theile ruͤhren urſpruͤnglich ebenfalls aus dem Gehirne her, und ſind daſelbſt mit den Bewegungen, die das Bewußtſeyn der Empfindungen verurſachen, ebenfalls in Verbindung. Die Leichtigkeit derſelben, ihre Grade, die allmaͤhlich bis zum Schmer- zen gehende Ermuͤdung, die dadurch veranlaßte Begier- de nach der Ruhe, und ſelbſt das Erquickende des Aus- ruhens, ſind Proben davon. Da man auch des zu lange anhaltenden Nachdenkens muͤde werden kann, und Ruhe und Zerſtreuung der Gedanken ſuchen muß, ſo ſcheint, daß auch der Gebrauch der Erkenntniß- kraͤfte darinn dem Gebrauche der Leibeskraͤfte aͤhnlich ſey, daß ſie ſich ermuͤden, und bey beyden die ſtaͤrkere Ermuͤdung durch den Schlaf muß erſetzt werden.
§. 135. Alles dieſes iſt bey verſchiedenen Menſchen verſchieden, und die individualen Beſtimmungen, ſo ſich bey denſelben finden, machen von Kindheit auf die erſte Anlage zu den Charaktern einzelner Menſchen aus. Die Nahrung, die Lebensart und die Erziehung helfen dieſe erſte Anlage vollends ausbilden, und ſie in vielerley Ab- ſichten und einzelnen Theilen beſſer oder ſchlechter ma- chen. Einige ſind feinerer Empfindungen faͤhig, an- dere zu dem Gebrauche der untern, andere zu dem Ge- brauche der obern Erkenntnißkraͤfte mehr aufgelegt. Bey einigen ſcheint ein beſtaͤndiger Nebel im Gehirne die feinern Empfindungen zu hemmen, und den Verſtand
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IV. Hauptſtuͤck.
gleichſam umnebelt, daß das Bewußtſeyn davon
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iſt in ſolchen Faͤllen eine laͤngſt eingefuͤhrte Metapher.
Bey ſtarken Getraͤnken ſcheint es dem buchſtaͤblichen
Verſtande nach vorzukommen, und es iſt kaum zu zwei-
feln, daß es bey ſtaͤrkern ſinnlichen Leidenſchaften nicht
auch ſey, weil ſie ihre Wirkung auf die Gebaͤrden, Ge-
ſichtszuͤge und den ganzen Leib erſtrecken.
§. 134. Die von dem Willen abhaͤngenden Bewe-
gungen des Leibes und jeder Theile ruͤhren urſpruͤnglich
ebenfalls aus dem Gehirne her, und ſind daſelbſt mit den
Bewegungen, die das Bewußtſeyn der Empfindungen
verurſachen, ebenfalls in Verbindung. Die Leichtigkeit
derſelben, ihre Grade, die allmaͤhlich bis zum Schmer-
zen gehende Ermuͤdung, die dadurch veranlaßte Begier-
de nach der Ruhe, und ſelbſt das Erquickende des Aus-
ruhens, ſind Proben davon. Da man auch des zu
lange anhaltenden Nachdenkens muͤde werden kann,
und Ruhe und Zerſtreuung der Gedanken ſuchen
muß, ſo ſcheint, daß auch der Gebrauch der Erkenntniß-
kraͤfte darinn dem Gebrauche der Leibeskraͤfte aͤhnlich
ſey, daß ſie ſich ermuͤden, und bey beyden die ſtaͤrkere
Ermuͤdung durch den Schlaf muß erſetzt werden.
§. 135. Alles dieſes iſt bey verſchiedenen Menſchen
verſchieden, und die individualen Beſtimmungen, ſo ſich
bey denſelben finden, machen von Kindheit auf die erſte
Anlage zu den Charaktern einzelner Menſchen aus. Die
Nahrung, die Lebensart und die Erziehung helfen dieſe
erſte Anlage vollends ausbilden, und ſie in vielerley Ab-
ſichten und einzelnen Theilen beſſer oder ſchlechter ma-
chen. Einige ſind feinerer Empfindungen faͤhig, an-
dere zu dem Gebrauche der untern, andere zu dem Ge-
brauche der obern Erkenntnißkraͤfte mehr aufgelegt. Bey
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/312>, abgerufen am 16.07.2024.
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