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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem psychologischen Schein.
den muß, und in gerichtlichen Fällen öfters nicht gerin-
ge Weitläuftigkeiten nach sich zieht. Daß übrigens
ein bloßer Schein so tief einwurzeln könne, erhellet aus
denen Fällen, wo sich jemand eine an sich irrige Sache
nicht will ausreden oder aus dem Sinn bringen
lassen. Zuweilen ist auch in der That etwas Patholo-
gisches dabey, zumal wenn die Ungereimtheit in die Au-
gen fällt, oder der Eigensinn aus Affecten entsteht, oder
hypocondrische Verwirrungen der Einbildungskraft die
Gedanken auf eine Seite hinreißen, bis der Anfall auf-
hört. So ist man auch geneigt, einem Menschen, dem
man aus Vorurtheil oder andern Gründen nicht traut,
alles was er thut, um sich das Zutrauen zu erwerben,
auch wenn er es aufrichtig meynt, von der verkehrten
Seite her und zur Vermehrung des Mistrauens aus-
zulegen. Die Unterschiede der Scheinheiligkeit und
wahren Frömmigkeit sind in vielen Fällen ebenfalls
schwer zu erkennen. Denn da letztere nirgends ohne
mit unterlaufende Fehler, Mängel, Versäumnisse etc. ist,
so kömmt es vielmal darauf an, ob man diese zum Be-
weise, daß das übrige nur Schein sey, gebrauchen, oder
dessen uneracht, das Gute in seinem Werthe lassen will.
Man sehe, was wir oben schon (§. 107.) über die Be-
urtheilung der Moralität der Handlungen angemerkt
haben. Da überhaupt kein Mensch weder durchaus
fromm, noch durchaus gottlos und lasterhaft ist, so ist
es allerdings Uebereilung und blinde Liebe oder blinder
Haß, wenn man jemand auf diese Extremitäten setzt,
und entweder alles oder gar nichts zutraut, ohne zu be-
stimmen, was man ohne Bedenken thun oder lassen
kann. Eine allgemeine Entscheidung wäre allerdings
kurz und bequem, sie geht aber bey der wirklichen Be-
schaffenheit der Menschen so unbedingt nicht an.

§. 114. Was man sich überhaupt von einer Sache
bewußt ist, können wir eine Seite derselben nennen.

Diese
Lamb. Organon II B. T

Von dem pſychologiſchen Schein.
den muß, und in gerichtlichen Faͤllen oͤfters nicht gerin-
ge Weitlaͤuftigkeiten nach ſich zieht. Daß uͤbrigens
ein bloßer Schein ſo tief einwurzeln koͤnne, erhellet aus
denen Faͤllen, wo ſich jemand eine an ſich irrige Sache
nicht will ausreden oder aus dem Sinn bringen
laſſen. Zuweilen iſt auch in der That etwas Patholo-
giſches dabey, zumal wenn die Ungereimtheit in die Au-
gen faͤllt, oder der Eigenſinn aus Affecten entſteht, oder
hypocondriſche Verwirrungen der Einbildungskraft die
Gedanken auf eine Seite hinreißen, bis der Anfall auf-
hoͤrt. So iſt man auch geneigt, einem Menſchen, dem
man aus Vorurtheil oder andern Gruͤnden nicht traut,
alles was er thut, um ſich das Zutrauen zu erwerben,
auch wenn er es aufrichtig meynt, von der verkehrten
Seite her und zur Vermehrung des Mistrauens aus-
zulegen. Die Unterſchiede der Scheinheiligkeit und
wahren Froͤmmigkeit ſind in vielen Faͤllen ebenfalls
ſchwer zu erkennen. Denn da letztere nirgends ohne
mit unterlaufende Fehler, Maͤngel, Verſaͤumniſſe ꝛc. iſt,
ſo koͤmmt es vielmal darauf an, ob man dieſe zum Be-
weiſe, daß das uͤbrige nur Schein ſey, gebrauchen, oder
deſſen uneracht, das Gute in ſeinem Werthe laſſen will.
Man ſehe, was wir oben ſchon (§. 107.) uͤber die Be-
urtheilung der Moralitaͤt der Handlungen angemerkt
haben. Da uͤberhaupt kein Menſch weder durchaus
fromm, noch durchaus gottlos und laſterhaft iſt, ſo iſt
es allerdings Uebereilung und blinde Liebe oder blinder
Haß, wenn man jemand auf dieſe Extremitaͤten ſetzt,
und entweder alles oder gar nichts zutraut, ohne zu be-
ſtimmen, was man ohne Bedenken thun oder laſſen
kann. Eine allgemeine Entſcheidung waͤre allerdings
kurz und bequem, ſie geht aber bey der wirklichen Be-
ſchaffenheit der Menſchen ſo unbedingt nicht an.

§. 114. Was man ſich uͤberhaupt von einer Sache
bewußt iſt, koͤnnen wir eine Seite derſelben nennen.

Dieſe
Lamb. Organon II B. T
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[289/0295] Von dem pſychologiſchen Schein. den muß, und in gerichtlichen Faͤllen oͤfters nicht gerin- ge Weitlaͤuftigkeiten nach ſich zieht. Daß uͤbrigens ein bloßer Schein ſo tief einwurzeln koͤnne, erhellet aus denen Faͤllen, wo ſich jemand eine an ſich irrige Sache nicht will ausreden oder aus dem Sinn bringen laſſen. Zuweilen iſt auch in der That etwas Patholo- giſches dabey, zumal wenn die Ungereimtheit in die Au- gen faͤllt, oder der Eigenſinn aus Affecten entſteht, oder hypocondriſche Verwirrungen der Einbildungskraft die Gedanken auf eine Seite hinreißen, bis der Anfall auf- hoͤrt. So iſt man auch geneigt, einem Menſchen, dem man aus Vorurtheil oder andern Gruͤnden nicht traut, alles was er thut, um ſich das Zutrauen zu erwerben, auch wenn er es aufrichtig meynt, von der verkehrten Seite her und zur Vermehrung des Mistrauens aus- zulegen. Die Unterſchiede der Scheinheiligkeit und wahren Froͤmmigkeit ſind in vielen Faͤllen ebenfalls ſchwer zu erkennen. Denn da letztere nirgends ohne mit unterlaufende Fehler, Maͤngel, Verſaͤumniſſe ꝛc. iſt, ſo koͤmmt es vielmal darauf an, ob man dieſe zum Be- weiſe, daß das uͤbrige nur Schein ſey, gebrauchen, oder deſſen uneracht, das Gute in ſeinem Werthe laſſen will. Man ſehe, was wir oben ſchon (§. 107.) uͤber die Be- urtheilung der Moralitaͤt der Handlungen angemerkt haben. Da uͤberhaupt kein Menſch weder durchaus fromm, noch durchaus gottlos und laſterhaft iſt, ſo iſt es allerdings Uebereilung und blinde Liebe oder blinder Haß, wenn man jemand auf dieſe Extremitaͤten ſetzt, und entweder alles oder gar nichts zutraut, ohne zu be- ſtimmen, was man ohne Bedenken thun oder laſſen kann. Eine allgemeine Entſcheidung waͤre allerdings kurz und bequem, ſie geht aber bey der wirklichen Be- ſchaffenheit der Menſchen ſo unbedingt nicht an. §. 114. Was man ſich uͤberhaupt von einer Sache bewußt iſt, koͤnnen wir eine Seite derſelben nennen. Dieſe Lamb. Organon II B. T

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/295>, abgerufen am 23.11.2024.