Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.Von dem psychologischen Schein. wir sind weder durch Beweise noch andere Proben da-von versichert, so daß wir denselben nur annehmen, weil uns nichts dawider einfällt, so ist es zwar an sich kein leerer Schein, aber wir können ihn noch nicht als real erkennen. Ueberhaupt finden sich die Wider- sprüche leichter in Begriffen, die wir aus andern ein- fachern oder einfacher scheinenden zusammensetzen. Hin- gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab- strahiren, so ist es sehr leicht, Merkmale aus der Acht zu lassen, die wir hätten mitnehmen sollen, und dieses macht den abstrahirten Begriff unvollständig, oder es bleiben Lücken darinn, die sich nur dann entdecken, wo in vorkommenden Fällen die weggelassenen Merk- male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen. Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen, sondern von andern Begriffen abstrahirt, so ist es auch möglich, die Widersprüche und Lücken von diesen ganz oder zum Theil in den abstrahirten Begriff zu nehmen. Die Lücken in einem Begriffe geben irrige verneinende Sätze, weil man die weggelassenen Merkmale von dem Begriffe ausschließt. Die Widersprüche aber füh- ren auf Sätze, die einander ganz oder zum Theil auf- heben. §. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der nicht
Von dem pſychologiſchen Schein. wir ſind weder durch Beweiſe noch andere Proben da-von verſichert, ſo daß wir denſelben nur annehmen, weil uns nichts dawider einfaͤllt, ſo iſt es zwar an ſich kein leerer Schein, aber wir koͤnnen ihn noch nicht als real erkennen. Ueberhaupt finden ſich die Wider- ſpruͤche leichter in Begriffen, die wir aus andern ein- fachern oder einfacher ſcheinenden zuſammenſetzen. Hin- gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab- ſtrahiren, ſo iſt es ſehr leicht, Merkmale aus der Acht zu laſſen, die wir haͤtten mitnehmen ſollen, und dieſes macht den abſtrahirten Begriff unvollſtaͤndig, oder es bleiben Luͤcken darinn, die ſich nur dann entdecken, wo in vorkommenden Faͤllen die weggelaſſenen Merk- male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen. Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen, ſondern von andern Begriffen abſtrahirt, ſo iſt es auch moͤglich, die Widerſpruͤche und Luͤcken von dieſen ganz oder zum Theil in den abſtrahirten Begriff zu nehmen. Die Luͤcken in einem Begriffe geben irrige verneinende Saͤtze, weil man die weggelaſſenen Merkmale von dem Begriffe ausſchließt. Die Widerſpruͤche aber fuͤh- ren auf Saͤtze, die einander ganz oder zum Theil auf- heben. §. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der nicht
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0289" n="283"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem pſychologiſchen Schein.</hi></fw><lb/> wir ſind weder durch Beweiſe noch andere Proben da-<lb/> von verſichert, ſo daß wir denſelben nur annehmen,<lb/> weil uns nichts dawider einfaͤllt, ſo iſt es zwar an ſich<lb/> kein leerer Schein, aber wir koͤnnen ihn noch nicht als<lb/> real erkennen. Ueberhaupt finden ſich die <hi rendition="#fr">Wider-<lb/> ſpruͤche</hi> leichter in Begriffen, die wir aus andern ein-<lb/> fachern oder einfacher ſcheinenden zuſammenſetzen. Hin-<lb/> gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab-<lb/> ſtrahiren, ſo iſt es ſehr leicht, Merkmale aus der Acht<lb/> zu laſſen, die wir haͤtten mitnehmen ſollen, und dieſes<lb/> macht den abſtrahirten Begriff unvollſtaͤndig, oder es<lb/> bleiben <hi rendition="#fr">Luͤcken</hi> darinn, die ſich nur dann entdecken,<lb/> wo in vorkommenden Faͤllen die weggelaſſenen Merk-<lb/> male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen.<lb/> Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen,<lb/> ſondern von andern Begriffen abſtrahirt, ſo iſt es auch<lb/> moͤglich, die Widerſpruͤche und Luͤcken von dieſen ganz<lb/> oder zum Theil in den abſtrahirten Begriff zu nehmen.<lb/> Die Luͤcken in einem Begriffe geben irrige verneinende<lb/> Saͤtze, weil man die weggelaſſenen Merkmale von dem<lb/> Begriffe ausſchließt. Die Widerſpruͤche aber fuͤh-<lb/> ren auf Saͤtze, die einander ganz oder zum Theil auf-<lb/> heben.</p><lb/> <p>§. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der<lb/> Schein vom Wahren abgeht, ſo ferne koͤnnen wir, um<lb/> ihn zu entdecken, Vergleichungen anſtellen, wie wir es<lb/> im vorhergehenden Hauptſtuͤcke, in Abſicht auf den von<lb/> den Sinnen herruͤhrenden Schein (§. 50. <hi rendition="#aq">ſeqq.</hi>), ange-<lb/> geben haben. Wie hiezu apogogiſche Beweiſe dienen,<lb/> haben wir in der Dianoiologie (§. 379.) angezeigt, und<lb/> durch ein an ſich offenbares Beyſpiel erlaͤutert, wie wir<lb/> bey der Vergleichung unſerer Gedanken anfangen zu<lb/> merken, daß etwas irriges mit unterlaufe, und ſolglich<lb/> ihre Richtigkeit nur ſcheinbar war. Denn wenn wir<lb/> Vorſtellungen gegen einander halten, und koͤnnen ſie<lb/> <fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [283/0289]
Von dem pſychologiſchen Schein.
wir ſind weder durch Beweiſe noch andere Proben da-
von verſichert, ſo daß wir denſelben nur annehmen,
weil uns nichts dawider einfaͤllt, ſo iſt es zwar an ſich
kein leerer Schein, aber wir koͤnnen ihn noch nicht als
real erkennen. Ueberhaupt finden ſich die Wider-
ſpruͤche leichter in Begriffen, die wir aus andern ein-
fachern oder einfacher ſcheinenden zuſammenſetzen. Hin-
gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab-
ſtrahiren, ſo iſt es ſehr leicht, Merkmale aus der Acht
zu laſſen, die wir haͤtten mitnehmen ſollen, und dieſes
macht den abſtrahirten Begriff unvollſtaͤndig, oder es
bleiben Luͤcken darinn, die ſich nur dann entdecken,
wo in vorkommenden Faͤllen die weggelaſſenen Merk-
male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen.
Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen,
ſondern von andern Begriffen abſtrahirt, ſo iſt es auch
moͤglich, die Widerſpruͤche und Luͤcken von dieſen ganz
oder zum Theil in den abſtrahirten Begriff zu nehmen.
Die Luͤcken in einem Begriffe geben irrige verneinende
Saͤtze, weil man die weggelaſſenen Merkmale von dem
Begriffe ausſchließt. Die Widerſpruͤche aber fuͤh-
ren auf Saͤtze, die einander ganz oder zum Theil auf-
heben.
§. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der
Schein vom Wahren abgeht, ſo ferne koͤnnen wir, um
ihn zu entdecken, Vergleichungen anſtellen, wie wir es
im vorhergehenden Hauptſtuͤcke, in Abſicht auf den von
den Sinnen herruͤhrenden Schein (§. 50. ſeqq.), ange-
geben haben. Wie hiezu apogogiſche Beweiſe dienen,
haben wir in der Dianoiologie (§. 379.) angezeigt, und
durch ein an ſich offenbares Beyſpiel erlaͤutert, wie wir
bey der Vergleichung unſerer Gedanken anfangen zu
merken, daß etwas irriges mit unterlaufe, und ſolglich
ihre Richtigkeit nur ſcheinbar war. Denn wenn wir
Vorſtellungen gegen einander halten, und koͤnnen ſie
nicht
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |