Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite


Zweytes Hauptstück.
Von dem sinnlichen Schein.

§. 34.

Da unsere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-
fängt, so werden wir der Ordnung der Natur fol-
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die sie uns an-
bieten, zuerst und besonders zu betrachten vornehmen,
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Ansehung
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen
sind. Wir haben in vorhergehendem Hauptstücke den
Schein, so von den Sinnen herrührt, bereits in den
physischen und den organischen oder pathologi-
schen
eingetheilt, und können hier kürzlich anmerken,
daß letzterer durchaus subjectiv ist, bey dem erstern aber
sowohl das subjective, als das objective und relative
des Scheins vorkömmt.

§. 35. Die erste Frage, die sich hiebey anbeut, ist
diese: Wie man in jeden besondern Fällen er-
kennen könne, ob das, so wir zu empfinden
glauben, ein bloß organischer oder aber ein
wirklich physischer Schein sey,
das will sagen,
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache
gewirkt werde oder nicht? Jn Ansehung dieser Frage
merken wir voraus an, daß die Jdealisten sie ungefähr
so abfassen müssen: Ob die Seele sich ohne äußere Ver-
anlassung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob
ihre Einbildung unvollständig und unzusammenhängend
wäre, wenn sie sich nicht auch die äußere Veranlassung
einbildete? Denn in der Sprache der Jdealisten ist al-
les hypothetisch, was die Körperwelt angeht, und unter
der Bedingung, die Körperwelt sey nur eingebildet,

müssen


Zweytes Hauptſtuͤck.
Von dem ſinnlichen Schein.

§. 34.

Da unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-
faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol-
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an-
bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen,
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen
ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den
Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den
phyſiſchen und den organiſchen oder pathologi-
ſchen
eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken,
daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber
ſowohl das ſubjective, als das objective und relative
des Scheins vorkoͤmmt.

§. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt
dieſe: Wie man in jeden beſondern Faͤllen er-
kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden
glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein
wirklich phyſiſcher Schein ſey,
das will ſagen,
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache
gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage
merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr
ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver-
anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob
ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend
waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung
einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al-
les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter
der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet,

muͤſſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0243" n="237"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Zweytes Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.<lb/><hi rendition="#g">Von dem &#x017F;innlichen Schein.</hi></hi> </head><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">§. 34.</hi> </p><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>a un&#x017F;ere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-<lb/>
fa&#x0364;ngt, &#x017F;o werden wir der Ordnung der Natur fol-<lb/>
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die &#x017F;ie uns an-<lb/>
bieten, zuer&#x017F;t und be&#x017F;onders zu betrachten vornehmen,<lb/>
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in An&#x017F;ehung<lb/>
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen<lb/>
&#x017F;ind. Wir haben in vorhergehendem Haupt&#x017F;tu&#x0364;cke den<lb/>
Schein, &#x017F;o von den Sinnen herru&#x0364;hrt, bereits in den<lb/><hi rendition="#fr">phy&#x017F;i&#x017F;chen</hi> und den <hi rendition="#fr">organi&#x017F;chen</hi> oder <hi rendition="#fr">pathologi-<lb/>
&#x017F;chen</hi> eingetheilt, und ko&#x0364;nnen hier ku&#x0364;rzlich anmerken,<lb/>
daß letzterer durchaus &#x017F;ubjectiv i&#x017F;t, bey dem er&#x017F;tern aber<lb/>
&#x017F;owohl das &#x017F;ubjective, als das objective und relative<lb/>
des Scheins vorko&#x0364;mmt.</p><lb/>
          <p>§. 35. Die er&#x017F;te Frage, die &#x017F;ich hiebey anbeut, i&#x017F;t<lb/>
die&#x017F;e: <hi rendition="#fr">Wie man in jeden be&#x017F;ondern Fa&#x0364;llen er-<lb/>
kennen ko&#x0364;nne, ob das, &#x017F;o wir zu empfinden<lb/>
glauben, ein bloß organi&#x017F;cher oder aber ein<lb/>
wirklich phy&#x017F;i&#x017F;cher Schein &#x017F;ey,</hi> das will &#x017F;agen,<lb/>
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache<lb/>
gewirkt werde oder nicht? Jn An&#x017F;ehung die&#x017F;er Frage<lb/>
merken wir voraus an, daß die Jdeali&#x017F;ten &#x017F;ie ungefa&#x0364;hr<lb/>
&#x017F;o abfa&#x017F;&#x017F;en mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: Ob die Seele &#x017F;ich ohne a&#x0364;ußere Ver-<lb/>
anla&#x017F;&#x017F;ung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob<lb/>
ihre Einbildung unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig und unzu&#x017F;ammenha&#x0364;ngend<lb/>
wa&#x0364;re, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich nicht auch die a&#x0364;ußere Veranla&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
einbildete? Denn in der Sprache der Jdeali&#x017F;ten i&#x017F;t al-<lb/>
les hypotheti&#x017F;ch, was die Ko&#x0364;rperwelt angeht, und unter<lb/>
der Bedingung, die Ko&#x0364;rperwelt &#x017F;ey nur eingebildet,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0243] Zweytes Hauptſtuͤck. Von dem ſinnlichen Schein. §. 34. Da unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an- faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol- gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an- bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen, zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den phyſiſchen und den organiſchen oder pathologi- ſchen eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken, daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber ſowohl das ſubjective, als das objective und relative des Scheins vorkoͤmmt. §. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt dieſe: Wie man in jeden beſondern Faͤllen er- kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein wirklich phyſiſcher Schein ſey, das will ſagen, ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver- anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al- les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet, muͤſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/243
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/243>, abgerufen am 23.11.2024.