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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von den Arten des Scheins.
chen Dingen sind wir leicht geneigt, die äußersten Gra-
de, die wir kennen, für die zu nehmen, die an sich die
äußersten sind, und wo die Sache gar zu sehr zusam-
mengesetzt ist, da sind wir uns weder aller Theile, noch
ihres Werthes bewußt, und die Summe kömmt uns
bald größer bald kleiner vor, je nachdem das Bewußt-
seyn vollständiger ist, und je nachdem wir eine Sache
zum Maaßstabe der Schätzung annehmen. 2. Eben
diese Veränderlichkeit findet sich auch bey Beurtheilung
der moralischen Gewißheit oder der wahrscheinlichen
Beweise. Sie können uns bald stärker bald schwächer
vorkommen, je nachdem wir sie uns lebhafter und aus-
führlicher vorstellen. 3. Bey Beurtheilung der Be-
weggründe, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, kann
sich ein solcher Wankelmuth ebenfalls einfinden, beson-
ders wo die Folgen des Entschlusses noch erst wahr-
scheinlich sind, und die Guten gegen die Schlimmern,
oder die Folgen des Thuns gegen die Folgen des Unter-
lassens müssen abgewogen werden. Da ist es schwer,
sich jedesmal aller bewußt zu seyn, und die, deren man
sich nicht bewußt ist, werden leicht als gar nicht mit un-
terlaufend angesehen, wenigstens kann man sie nicht in
die Rechnung ziehen.

§. 14. Die Einbildungskraft giebt uns ebenfalls
vielfache und sehr erhebliche Quellen des Scheins an.
Einmal mengt sie sich bey den meisten Empfindungen
so mit ein, daß wir Mühe haben, das aus der Empfin-
dung entstehende Bild rein, das ist, ohne Einmischung
von ehmals gehabten Vorstellungen und Schlüssen, zu
erhalten. Daher kömmt es, daß sehr oft als Erfah-
rung ausgegeben wird, was sich nicht unmittelbar em-
pfinden läßt, sondern aus der Empfindung erst geschlos-
sen, oder von ganz fremden Bildern mit eingemengt
wird. Man sehe, was wir in dem achten Hauptstücke

der
Lamb. Organon II B. P

Von den Arten des Scheins.
chen Dingen ſind wir leicht geneigt, die aͤußerſten Gra-
de, die wir kennen, fuͤr die zu nehmen, die an ſich die
aͤußerſten ſind, und wo die Sache gar zu ſehr zuſam-
mengeſetzt iſt, da ſind wir uns weder aller Theile, noch
ihres Werthes bewußt, und die Summe koͤmmt uns
bald groͤßer bald kleiner vor, je nachdem das Bewußt-
ſeyn vollſtaͤndiger iſt, und je nachdem wir eine Sache
zum Maaßſtabe der Schaͤtzung annehmen. 2. Eben
dieſe Veraͤnderlichkeit findet ſich auch bey Beurtheilung
der moraliſchen Gewißheit oder der wahrſcheinlichen
Beweiſe. Sie koͤnnen uns bald ſtaͤrker bald ſchwaͤcher
vorkommen, je nachdem wir ſie uns lebhafter und aus-
fuͤhrlicher vorſtellen. 3. Bey Beurtheilung der Be-
weggruͤnde, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, kann
ſich ein ſolcher Wankelmuth ebenfalls einfinden, beſon-
ders wo die Folgen des Entſchluſſes noch erſt wahr-
ſcheinlich ſind, und die Guten gegen die Schlimmern,
oder die Folgen des Thuns gegen die Folgen des Unter-
laſſens muͤſſen abgewogen werden. Da iſt es ſchwer,
ſich jedesmal aller bewußt zu ſeyn, und die, deren man
ſich nicht bewußt iſt, werden leicht als gar nicht mit un-
terlaufend angeſehen, wenigſtens kann man ſie nicht in
die Rechnung ziehen.

§. 14. Die Einbildungskraft giebt uns ebenfalls
vielfache und ſehr erhebliche Quellen des Scheins an.
Einmal mengt ſie ſich bey den meiſten Empfindungen
ſo mit ein, daß wir Muͤhe haben, das aus der Empfin-
dung entſtehende Bild rein, das iſt, ohne Einmiſchung
von ehmals gehabten Vorſtellungen und Schluͤſſen, zu
erhalten. Daher koͤmmt es, daß ſehr oft als Erfah-
rung ausgegeben wird, was ſich nicht unmittelbar em-
pfinden laͤßt, ſondern aus der Empfindung erſt geſchloſ-
ſen, oder von ganz fremden Bildern mit eingemengt
wird. Man ſehe, was wir in dem achten Hauptſtuͤcke

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Lamb. Organon II B. P
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[225/0231] Von den Arten des Scheins. chen Dingen ſind wir leicht geneigt, die aͤußerſten Gra- de, die wir kennen, fuͤr die zu nehmen, die an ſich die aͤußerſten ſind, und wo die Sache gar zu ſehr zuſam- mengeſetzt iſt, da ſind wir uns weder aller Theile, noch ihres Werthes bewußt, und die Summe koͤmmt uns bald groͤßer bald kleiner vor, je nachdem das Bewußt- ſeyn vollſtaͤndiger iſt, und je nachdem wir eine Sache zum Maaßſtabe der Schaͤtzung annehmen. 2. Eben dieſe Veraͤnderlichkeit findet ſich auch bey Beurtheilung der moraliſchen Gewißheit oder der wahrſcheinlichen Beweiſe. Sie koͤnnen uns bald ſtaͤrker bald ſchwaͤcher vorkommen, je nachdem wir ſie uns lebhafter und aus- fuͤhrlicher vorſtellen. 3. Bey Beurtheilung der Be- weggruͤnde, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, kann ſich ein ſolcher Wankelmuth ebenfalls einfinden, beſon- ders wo die Folgen des Entſchluſſes noch erſt wahr- ſcheinlich ſind, und die Guten gegen die Schlimmern, oder die Folgen des Thuns gegen die Folgen des Unter- laſſens muͤſſen abgewogen werden. Da iſt es ſchwer, ſich jedesmal aller bewußt zu ſeyn, und die, deren man ſich nicht bewußt iſt, werden leicht als gar nicht mit un- terlaufend angeſehen, wenigſtens kann man ſie nicht in die Rechnung ziehen. §. 14. Die Einbildungskraft giebt uns ebenfalls vielfache und ſehr erhebliche Quellen des Scheins an. Einmal mengt ſie ſich bey den meiſten Empfindungen ſo mit ein, daß wir Muͤhe haben, das aus der Empfin- dung entſtehende Bild rein, das iſt, ohne Einmiſchung von ehmals gehabten Vorſtellungen und Schluͤſſen, zu erhalten. Daher koͤmmt es, daß ſehr oft als Erfah- rung ausgegeben wird, was ſich nicht unmittelbar em- pfinden laͤßt, ſondern aus der Empfindung erſt geſchloſ- ſen, oder von ganz fremden Bildern mit eingemengt wird. Man ſehe, was wir in dem achten Hauptſtuͤcke der Lamb. Organon II B. P

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/231>, abgerufen am 23.11.2024.