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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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I. Hauptstück.
zu seyn scheinen, für das nehmen, was sie wirklich
sind,
oder hinwiederum dieses mit jenem verwechseln.
Die Mittel, dieses Täuschwerk zu vermeiden, und durch
den Schein zu dem Wahren durchzudringen, sind dem-
nach einem Weltweisen, der durchaus das Wahre an
sich zu erkennen sucht, um desto unentbehrlicher, je man-
nigfaltiger die Quellen sind, woraus die Blendungen
des Scheins fließen. Die Theorie des Scheins und
seines Einflusses in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der
menschlichen Erkenntniß, macht demnach den Theil der
Grundwissenschaft aus, den wir die Phänomenologie
nennen, und in diesem ersten Hauptstücke den Begriff
davon entwickeln werden.

§. 2. Der Begriff des Scheins ist sowohl dem
Wort als seinem ersten Ursprunge nach, von dem Auge
oder von dem Sehen hergenommen, und stuffenweise
auf die übrigen Sinnen und auf die Einbildungskraft
ausgedehnt, und dadurch zugleich allgemeiner, und theils
auch vielfach geworden. Hingegen ist die Theorie des
Scheins, so fern man nämlich etwas vollständiges ver-
langt, bisher fast ganz bey dem Auge zurücke geblie-
ben. Jn der That beut auch das Auge vielsachern
Stoff zum Schein an, seine Structur ist einfacher, und
die Wege des Lichtes bekannter, und so war eine nähere
Möglichkeit da, die Theorie des Sehens auf richtige
und brauchbare Gründe zu bringen, und damit die ma-
thematischen Wissenschaften zu bereichern. Ueberdieß
war die Optik oder Sehekunst den Astronomen,
welche aus der scheinbaren Gestalt des Himmels auf
die wahre Einrichtung des Weltbaues zu schließen hat-
ten, viel zu unentbehrlich, als daß sie nicht die schwe-
rern optischen Lehrsätze längst schon hätten aufsuchen
und anwenden sollen. Jn den neuern Zeiten haben
die Fernröhren und Vergrößerungsgläser neuen Stoff
zur Erweiterung der optischen Wissenschaften gegeben,

und

I. Hauptſtuͤck.
zu ſeyn ſcheinen, fuͤr das nehmen, was ſie wirklich
ſind,
oder hinwiederum dieſes mit jenem verwechſeln.
Die Mittel, dieſes Taͤuſchwerk zu vermeiden, und durch
den Schein zu dem Wahren durchzudringen, ſind dem-
nach einem Weltweiſen, der durchaus das Wahre an
ſich zu erkennen ſucht, um deſto unentbehrlicher, je man-
nigfaltiger die Quellen ſind, woraus die Blendungen
des Scheins fließen. Die Theorie des Scheins und
ſeines Einfluſſes in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der
menſchlichen Erkenntniß, macht demnach den Theil der
Grundwiſſenſchaft aus, den wir die Phaͤnomenologie
nennen, und in dieſem erſten Hauptſtuͤcke den Begriff
davon entwickeln werden.

§. 2. Der Begriff des Scheins iſt ſowohl dem
Wort als ſeinem erſten Urſprunge nach, von dem Auge
oder von dem Sehen hergenommen, und ſtuffenweiſe
auf die uͤbrigen Sinnen und auf die Einbildungskraft
ausgedehnt, und dadurch zugleich allgemeiner, und theils
auch vielfach geworden. Hingegen iſt die Theorie des
Scheins, ſo fern man naͤmlich etwas vollſtaͤndiges ver-
langt, bisher faſt ganz bey dem Auge zuruͤcke geblie-
ben. Jn der That beut auch das Auge vielſachern
Stoff zum Schein an, ſeine Structur iſt einfacher, und
die Wege des Lichtes bekannter, und ſo war eine naͤhere
Moͤglichkeit da, die Theorie des Sehens auf richtige
und brauchbare Gruͤnde zu bringen, und damit die ma-
thematiſchen Wiſſenſchaften zu bereichern. Ueberdieß
war die Optik oder Sehekunſt den Aſtronomen,
welche aus der ſcheinbaren Geſtalt des Himmels auf
die wahre Einrichtung des Weltbaues zu ſchließen hat-
ten, viel zu unentbehrlich, als daß ſie nicht die ſchwe-
rern optiſchen Lehrſaͤtze laͤngſt ſchon haͤtten aufſuchen
und anwenden ſollen. Jn den neuern Zeiten haben
die Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤſer neuen Stoff
zur Erweiterung der optiſchen Wiſſenſchaften gegeben,

und
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[218/0224] I. Hauptſtuͤck. zu ſeyn ſcheinen, fuͤr das nehmen, was ſie wirklich ſind, oder hinwiederum dieſes mit jenem verwechſeln. Die Mittel, dieſes Taͤuſchwerk zu vermeiden, und durch den Schein zu dem Wahren durchzudringen, ſind dem- nach einem Weltweiſen, der durchaus das Wahre an ſich zu erkennen ſucht, um deſto unentbehrlicher, je man- nigfaltiger die Quellen ſind, woraus die Blendungen des Scheins fließen. Die Theorie des Scheins und ſeines Einfluſſes in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der menſchlichen Erkenntniß, macht demnach den Theil der Grundwiſſenſchaft aus, den wir die Phaͤnomenologie nennen, und in dieſem erſten Hauptſtuͤcke den Begriff davon entwickeln werden. §. 2. Der Begriff des Scheins iſt ſowohl dem Wort als ſeinem erſten Urſprunge nach, von dem Auge oder von dem Sehen hergenommen, und ſtuffenweiſe auf die uͤbrigen Sinnen und auf die Einbildungskraft ausgedehnt, und dadurch zugleich allgemeiner, und theils auch vielfach geworden. Hingegen iſt die Theorie des Scheins, ſo fern man naͤmlich etwas vollſtaͤndiges ver- langt, bisher faſt ganz bey dem Auge zuruͤcke geblie- ben. Jn der That beut auch das Auge vielſachern Stoff zum Schein an, ſeine Structur iſt einfacher, und die Wege des Lichtes bekannter, und ſo war eine naͤhere Moͤglichkeit da, die Theorie des Sehens auf richtige und brauchbare Gruͤnde zu bringen, und damit die ma- thematiſchen Wiſſenſchaften zu bereichern. Ueberdieß war die Optik oder Sehekunſt den Aſtronomen, welche aus der ſcheinbaren Geſtalt des Himmels auf die wahre Einrichtung des Weltbaues zu ſchließen hat- ten, viel zu unentbehrlich, als daß ſie nicht die ſchwe- rern optiſchen Lehrſaͤtze laͤngſt ſchon haͤtten aufſuchen und anwenden ſollen. Jn den neuern Zeiten haben die Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤſer neuen Stoff zur Erweiterung der optiſchen Wiſſenſchaften gegeben, und

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/224>, abgerufen am 27.11.2024.