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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Wortfügung.
arten in dieser Absicht mit den Algebraischen Glei-
chungen
vergleichen. Bey diesen ist die Bedingung,
daß die Größen auf beyden Seiten des Gleichstriches
einander gleich seyn sollen, und durch diese Bedingung
läßt sich eine Größe durch die übrigen bestimmen.
Nimmt man an, eine Redensart solle einen durchaus
richtigen Verstand haben, so ist ebenfalls klar, daß diese
Bedingung fordert, man müsse die Bedeutung jeder
Wörter, ihren Umfang und Verbindung so gegen ein-
ander proportioniren, daß die Redensart verständlich
werde. Die hermeneutische Billigkeit (§. 302.) for-
dert dieses auch bey Lesung und Auslegung der Schrif-
ten anderer. Hiebey kömmt es nun in vielen Fällen
auf den verschiedenen Grad des Witzes und Scharfsin-
nigkeit und Gedult an. Es ist möglich, öfters aus den
verworrensten Schriften noch einen erträglichen Ver-
stand heraus zu bringen, oder zu bestimmen, was der
Autor von jeden Worten sich müsse für einen Begriff
gemacht haben, dafern man der hermeneutischen Billig-
keit gemäß, annehmen will, er habe mit einigem Be-
wußtseyn geschrieben, und sich in der That doch etwas
vorgestellt. Die Art, wie wir nach und nach zu dem
Begriffe der Bedeutung der Wörter gelangen, beson-
ders, wo die Sache nicht im Ganzen kann vorgelegt
werden, und die Möglichkeit, daß jeder sich durch ganz
individuale Reihen von Gedanken, den Weg zu neuen
Metaphern bähnen kann, und endlich auch, die vielen
Umstände, welche dazu beytragen, daß bald jeder die
Dinge sich von besondern und individualen Seiten vor-
stellt, alles| dieses macht die Beobachtung erstbemeldter
Billigkeit nothwendiger, und theils durch Uebung, theils
mit Beyhülfe eines höhern Grades der Scharfsinnig-
keit, des Witzes und der Gedult, leichter, und benimmt
zugleich das Vorurtheil, als wenn die Vorstellungsart,
die man zur Lesung einer Schrift mitbringt, der Maaß-

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Von der Wortfuͤgung.
arten in dieſer Abſicht mit den Algebraiſchen Glei-
chungen
vergleichen. Bey dieſen iſt die Bedingung,
daß die Groͤßen auf beyden Seiten des Gleichſtriches
einander gleich ſeyn ſollen, und durch dieſe Bedingung
laͤßt ſich eine Groͤße durch die uͤbrigen beſtimmen.
Nimmt man an, eine Redensart ſolle einen durchaus
richtigen Verſtand haben, ſo iſt ebenfalls klar, daß dieſe
Bedingung fordert, man muͤſſe die Bedeutung jeder
Woͤrter, ihren Umfang und Verbindung ſo gegen ein-
ander proportioniren, daß die Redensart verſtaͤndlich
werde. Die hermeneutiſche Billigkeit (§. 302.) for-
dert dieſes auch bey Leſung und Auslegung der Schrif-
ten anderer. Hiebey koͤmmt es nun in vielen Faͤllen
auf den verſchiedenen Grad des Witzes und Scharfſin-
nigkeit und Gedult an. Es iſt moͤglich, oͤfters aus den
verworrenſten Schriften noch einen ertraͤglichen Ver-
ſtand heraus zu bringen, oder zu beſtimmen, was der
Autor von jeden Worten ſich muͤſſe fuͤr einen Begriff
gemacht haben, dafern man der hermeneutiſchen Billig-
keit gemaͤß, annehmen will, er habe mit einigem Be-
wußtſeyn geſchrieben, und ſich in der That doch etwas
vorgeſtellt. Die Art, wie wir nach und nach zu dem
Begriffe der Bedeutung der Woͤrter gelangen, beſon-
ders, wo die Sache nicht im Ganzen kann vorgelegt
werden, und die Moͤglichkeit, daß jeder ſich durch ganz
individuale Reihen von Gedanken, den Weg zu neuen
Metaphern baͤhnen kann, und endlich auch, die vielen
Umſtaͤnde, welche dazu beytragen, daß bald jeder die
Dinge ſich von beſondern und individualen Seiten vor-
ſtellt, alles| dieſes macht die Beobachtung erſtbemeldter
Billigkeit nothwendiger, und theils durch Uebung, theils
mit Beyhuͤlfe eines hoͤhern Grades der Scharfſinnig-
keit, des Witzes und der Gedult, leichter, und benimmt
zugleich das Vorurtheil, als wenn die Vorſtellungsart,
die man zur Leſung einer Schrift mitbringt, der Maaß-

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[183/0189] Von der Wortfuͤgung. arten in dieſer Abſicht mit den Algebraiſchen Glei- chungen vergleichen. Bey dieſen iſt die Bedingung, daß die Groͤßen auf beyden Seiten des Gleichſtriches einander gleich ſeyn ſollen, und durch dieſe Bedingung laͤßt ſich eine Groͤße durch die uͤbrigen beſtimmen. Nimmt man an, eine Redensart ſolle einen durchaus richtigen Verſtand haben, ſo iſt ebenfalls klar, daß dieſe Bedingung fordert, man muͤſſe die Bedeutung jeder Woͤrter, ihren Umfang und Verbindung ſo gegen ein- ander proportioniren, daß die Redensart verſtaͤndlich werde. Die hermeneutiſche Billigkeit (§. 302.) for- dert dieſes auch bey Leſung und Auslegung der Schrif- ten anderer. Hiebey koͤmmt es nun in vielen Faͤllen auf den verſchiedenen Grad des Witzes und Scharfſin- nigkeit und Gedult an. Es iſt moͤglich, oͤfters aus den verworrenſten Schriften noch einen ertraͤglichen Ver- ſtand heraus zu bringen, oder zu beſtimmen, was der Autor von jeden Worten ſich muͤſſe fuͤr einen Begriff gemacht haben, dafern man der hermeneutiſchen Billig- keit gemaͤß, annehmen will, er habe mit einigem Be- wußtſeyn geſchrieben, und ſich in der That doch etwas vorgeſtellt. Die Art, wie wir nach und nach zu dem Begriffe der Bedeutung der Woͤrter gelangen, beſon- ders, wo die Sache nicht im Ganzen kann vorgelegt werden, und die Moͤglichkeit, daß jeder ſich durch ganz individuale Reihen von Gedanken, den Weg zu neuen Metaphern baͤhnen kann, und endlich auch, die vielen Umſtaͤnde, welche dazu beytragen, daß bald jeder die Dinge ſich von beſondern und individualen Seiten vor- ſtellt, alles| dieſes macht die Beobachtung erſtbemeldter Billigkeit nothwendiger, und theils durch Uebung, theils mit Beyhuͤlfe eines hoͤhern Grades der Scharfſinnig- keit, des Witzes und der Gedult, leichter, und benimmt zugleich das Vorurtheil, als wenn die Vorſtellungsart, die man zur Leſung einer Schrift mitbringt, der Maaß- ſtab M 4

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/189>, abgerufen am 27.11.2024.