anfängt zur gelehrten Sprache zu werden, und classische Schriftsteller sich darinn anfangen hervor zu thun.
§. 193. Da es hiebey viel auf die Anläße ankömmt, so ist auch leicht zu begreifen, daß jede Sprache hierinn einen ihr eigenen Schwung nimmt, und theils ganz an- dere Metaphern, theils auch bey einerley Metaphern einen verschiedenen Umfang annimmt. So hat z. E. das französische Wort genie einen ungleich größern Um- fang als das lateinische ingenium, von welchem es her- kömmt. Und überhaupt muß eine Sprache, die ärmer an Worten ist, nothwendig mehr Metaphern haben, wenn sie alles, was eine reichere Sprache ausdrückt, ebenfalls ausdrücken will.
§. 194. Wir finden ferner hierinn den Grund, wie es gar leicht möglich ist, daß Schriftsteller, theils in ei- nerley, theils auch in verschiedenen Sprachen, in den Worten ungemein verschieden, und einander ganz un- verständlich werden können. Denn dieß geschieht im- mer, so oft sie einerley Wörtern und Metaphern un- gleiche Bedeutungen und ungleichen Umfang geben. Denn eine Metapher paßt eigentlich niemals durchaus und in allen Theilen auf die verglichene Sache, und öfters läßt sie sich zur Vorstellung ganz verschiedener Begriffe gebrauchen, je nachdem man andere Verglei- chungsstücke (Tertium comparationis) wählt. Auf gleiche Art lassen sich für einerley Begriffe ganz verschie- gene Metaphern gebrauchen. Man hat z. E. die New- tonische Fluxionalrechnung und die Leibnitzische Diffe- rentialrechnung, zumal da die Erfinder auch in der Zeichnung von einander abgiengen, anfangs für ganz verschiedene Dinge angesehen. Euclid im Xten Buche, die Clossisten und die heutigen Analysten sind gleichfalls in den Worten bald durchaus verschieden. Noch un- verständlicher aber wird man, wenn man für sich, und ohne die vorhin erwähnte Probe anzustellen, ganze
Syste-
Lamb. Organon II B. H
Von den Nennwoͤrtern.
anfaͤngt zur gelehrten Sprache zu werden, und claſſiſche Schriftſteller ſich darinn anfangen hervor zu thun.
§. 193. Da es hiebey viel auf die Anlaͤße ankoͤmmt, ſo iſt auch leicht zu begreifen, daß jede Sprache hierinn einen ihr eigenen Schwung nimmt, und theils ganz an- dere Metaphern, theils auch bey einerley Metaphern einen verſchiedenen Umfang annimmt. So hat z. E. das franzoͤſiſche Wort genie einen ungleich groͤßern Um- fang als das lateiniſche ingenium, von welchem es her- koͤmmt. Und uͤberhaupt muß eine Sprache, die aͤrmer an Worten iſt, nothwendig mehr Metaphern haben, wenn ſie alles, was eine reichere Sprache ausdruͤckt, ebenfalls ausdruͤcken will.
§. 194. Wir finden ferner hierinn den Grund, wie es gar leicht moͤglich iſt, daß Schriftſteller, theils in ei- nerley, theils auch in verſchiedenen Sprachen, in den Worten ungemein verſchieden, und einander ganz un- verſtaͤndlich werden koͤnnen. Denn dieß geſchieht im- mer, ſo oft ſie einerley Woͤrtern und Metaphern un- gleiche Bedeutungen und ungleichen Umfang geben. Denn eine Metapher paßt eigentlich niemals durchaus und in allen Theilen auf die verglichene Sache, und oͤfters laͤßt ſie ſich zur Vorſtellung ganz verſchiedener Begriffe gebrauchen, je nachdem man andere Verglei- chungsſtuͤcke (Tertium comparationis) waͤhlt. Auf gleiche Art laſſen ſich fuͤr einerley Begriffe ganz verſchie- gene Metaphern gebrauchen. Man hat z. E. die New- toniſche Fluxionalrechnung und die Leibnitziſche Diffe- rentialrechnung, zumal da die Erfinder auch in der Zeichnung von einander abgiengen, anfangs fuͤr ganz verſchiedene Dinge angeſehen. Euclid im Xten Buche, die Cloſſiſten und die heutigen Analyſten ſind gleichfalls in den Worten bald durchaus verſchieden. Noch un- verſtaͤndlicher aber wird man, wenn man fuͤr ſich, und ohne die vorhin erwaͤhnte Probe anzuſtellen, ganze
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Lamb. Organon II B. H
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Von den Nennwoͤrtern.
anfaͤngt zur gelehrten Sprache zu werden, und claſſiſche
Schriftſteller ſich darinn anfangen hervor zu thun.
§. 193. Da es hiebey viel auf die Anlaͤße ankoͤmmt,
ſo iſt auch leicht zu begreifen, daß jede Sprache hierinn
einen ihr eigenen Schwung nimmt, und theils ganz an-
dere Metaphern, theils auch bey einerley Metaphern
einen verſchiedenen Umfang annimmt. So hat z. E.
das franzoͤſiſche Wort genie einen ungleich groͤßern Um-
fang als das lateiniſche ingenium, von welchem es her-
koͤmmt. Und uͤberhaupt muß eine Sprache, die aͤrmer
an Worten iſt, nothwendig mehr Metaphern haben,
wenn ſie alles, was eine reichere Sprache ausdruͤckt,
ebenfalls ausdruͤcken will.
§. 194. Wir finden ferner hierinn den Grund, wie
es gar leicht moͤglich iſt, daß Schriftſteller, theils in ei-
nerley, theils auch in verſchiedenen Sprachen, in den
Worten ungemein verſchieden, und einander ganz un-
verſtaͤndlich werden koͤnnen. Denn dieß geſchieht im-
mer, ſo oft ſie einerley Woͤrtern und Metaphern un-
gleiche Bedeutungen und ungleichen Umfang geben.
Denn eine Metapher paßt eigentlich niemals durchaus
und in allen Theilen auf die verglichene Sache, und
oͤfters laͤßt ſie ſich zur Vorſtellung ganz verſchiedener
Begriffe gebrauchen, je nachdem man andere Verglei-
chungsſtuͤcke (Tertium comparationis) waͤhlt. Auf
gleiche Art laſſen ſich fuͤr einerley Begriffe ganz verſchie-
gene Metaphern gebrauchen. Man hat z. E. die New-
toniſche Fluxionalrechnung und die Leibnitziſche Diffe-
rentialrechnung, zumal da die Erfinder auch in der
Zeichnung von einander abgiengen, anfangs fuͤr ganz
verſchiedene Dinge angeſehen. Euclid im Xten Buche,
die Cloſſiſten und die heutigen Analyſten ſind gleichfalls
in den Worten bald durchaus verſchieden. Noch un-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/119>, abgerufen am 27.11.2024.
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