dem Bewußtseyn desselben giebt. Sind wir uns aber einmal desselben bewußt, so haben wir nicht nö- thig, den Grund seiner Möglichkeit von der Erfah- rung herzuholen, weil die Möglichkeit mit der bloßen Vorstellung schon da ist. Demnach wird sie von der Erfahrung unabhängig. Und dieses ist ein Requisi- tum der Erkenntniß a priori im strengsten Verstande. (§. 639.) Sind wir uns nun eines jeden einfachen Begriffes für sich bewußt, so sind die Worte nur Benennungen desselben, wodurch wir jeden von den übrigen unterscheiden, und die anschauende Er- kenntniß mit der figürlichen verbinden. Endlich, wenn uns die Grundlage der Möglichkeit ihrer Zu- sammensetzung bekannt ist, so sind wir auch im Stan- de, aus diesen einfachen Begriffen zusammengesetzte zu bilden, ohne sie von der Erfahrung herzuholen. Demnach wird unsre Erkenntniß auch hierinn im streng- sten Verstande a priori. (§. 639.)
§. 657.
Wir können Umstände anführen, welche zeigen, daß wir uns von der Wahrheit und Wirklichkeit des- sen, so wir erst unter vorausgesetzten Bedingungen erwiesen haben, wenigstens auf eine noch confuse Art bewußt sind, weil wir öfters und unvermerkt sehr viele allgemeine Sätze und Begriffe als von der gegenwär- tigen Welt ganz unabhängig ansehen. Dahin gehö- ren alle Sätze, die an sich nothwendig wahr sind, und die wir unter die ewigen und unveränderli- chen Wahrheiten rechnen, die niemals anders seyn können. Z. E. daß zweymal zwey vier sey; daß, wer denkt, ist; daß ein Schlußsatz in Barbara nothwen- dig folge; daß ein Zirkel rund sey; daß vor nicht nach sey etc. sind alles Sätze, zu deren Wahrheit keine Existenz der Welt nöthig ist. Wir mögen die Be-
griffe
IX. Hauptſtuͤck,
dem Bewußtſeyn deſſelben giebt. Sind wir uns aber einmal deſſelben bewußt, ſo haben wir nicht noͤ- thig, den Grund ſeiner Moͤglichkeit von der Erfah- rung herzuholen, weil die Moͤglichkeit mit der bloßen Vorſtellung ſchon da iſt. Demnach wird ſie von der Erfahrung unabhaͤngig. Und dieſes iſt ein Requiſi- tum der Erkenntniß a priori im ſtrengſten Verſtande. (§. 639.) Sind wir uns nun eines jeden einfachen Begriffes fuͤr ſich bewußt, ſo ſind die Worte nur Benennungen deſſelben, wodurch wir jeden von den uͤbrigen unterſcheiden, und die anſchauende Er- kenntniß mit der figuͤrlichen verbinden. Endlich, wenn uns die Grundlage der Moͤglichkeit ihrer Zu- ſammenſetzung bekannt iſt, ſo ſind wir auch im Stan- de, aus dieſen einfachen Begriffen zuſammengeſetzte zu bilden, ohne ſie von der Erfahrung herzuholen. Demnach wird unſre Erkenntniß auch hierinn im ſtreng- ſten Verſtande a priori. (§. 639.)
§. 657.
Wir koͤnnen Umſtaͤnde anfuͤhren, welche zeigen, daß wir uns von der Wahrheit und Wirklichkeit deſ- ſen, ſo wir erſt unter vorausgeſetzten Bedingungen erwieſen haben, wenigſtens auf eine noch confuſe Art bewußt ſind, weil wir oͤfters und unvermerkt ſehr viele allgemeine Saͤtze und Begriffe als von der gegenwaͤr- tigen Welt ganz unabhaͤngig anſehen. Dahin gehoͤ- ren alle Saͤtze, die an ſich nothwendig wahr ſind, und die wir unter die ewigen und unveraͤnderli- chen Wahrheiten rechnen, die niemals anders ſeyn koͤnnen. Z. E. daß zweymal zwey vier ſey; daß, wer denkt, iſt; daß ein Schlußſatz in Barbara nothwen- dig folge; daß ein Zirkel rund ſey; daß vor nicht nach ſey ꝛc. ſind alles Saͤtze, zu deren Wahrheit keine Exiſtenz der Welt noͤthig iſt. Wir moͤgen die Be-
griffe
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IX. Hauptſtuͤck,
dem Bewußtſeyn deſſelben giebt. Sind wir uns
aber einmal deſſelben bewußt, ſo haben wir nicht noͤ-
thig, den Grund ſeiner Moͤglichkeit von der Erfah-
rung herzuholen, weil die Moͤglichkeit mit der bloßen
Vorſtellung ſchon da iſt. Demnach wird ſie von der
Erfahrung unabhaͤngig. Und dieſes iſt ein Requiſi-
tum der Erkenntniß a priori im ſtrengſten Verſtande.
(§. 639.) Sind wir uns nun eines jeden einfachen
Begriffes fuͤr ſich bewußt, ſo ſind die Worte nur
Benennungen deſſelben, wodurch wir jeden von den
uͤbrigen unterſcheiden, und die anſchauende Er-
kenntniß mit der figuͤrlichen verbinden. Endlich,
wenn uns die Grundlage der Moͤglichkeit ihrer Zu-
ſammenſetzung bekannt iſt, ſo ſind wir auch im Stan-
de, aus dieſen einfachen Begriffen zuſammengeſetzte
zu bilden, ohne ſie von der Erfahrung herzuholen.
Demnach wird unſre Erkenntniß auch hierinn im ſtreng-
ſten Verſtande a priori. (§. 639.)
§. 657.
Wir koͤnnen Umſtaͤnde anfuͤhren, welche zeigen,
daß wir uns von der Wahrheit und Wirklichkeit deſ-
ſen, ſo wir erſt unter vorausgeſetzten Bedingungen
erwieſen haben, wenigſtens auf eine noch confuſe Art
bewußt ſind, weil wir oͤfters und unvermerkt ſehr viele
allgemeine Saͤtze und Begriffe als von der gegenwaͤr-
tigen Welt ganz unabhaͤngig anſehen. Dahin gehoͤ-
ren alle Saͤtze, die an ſich nothwendig wahr ſind,
und die wir unter die ewigen und unveraͤnderli-
chen Wahrheiten rechnen, die niemals anders ſeyn
koͤnnen. Z. E. daß zweymal zwey vier ſey; daß, wer
denkt, iſt; daß ein Schlußſatz in Barbara nothwen-
dig folge; daß ein Zirkel rund ſey; daß vor nicht
nach ſey ꝛc. ſind alles Saͤtze, zu deren Wahrheit keine
Exiſtenz der Welt noͤthig iſt. Wir moͤgen die Be-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/444>, abgerufen am 23.02.2025.
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