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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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VIII. Hauptstück,
Noch weniger läßt sich aus dem bloßen nicht Be-
wußtseyn
schließen, die Sache selbst sey nicht, weil
es gar nicht nothwendig ist, daß wir alle Sachen se-
hen oder empfinden, oder uns der empfundenen im-
mer bewußt seyn. Man muß demnach beweisen kön-
nen, daß man die Sache nothwendig empfinden und
sich der Empfindung bewußt seyn müßte, wenn sie
da wäre. Oder wenn man statt der Sache eine an-
dre empfindet, welche mit derselben zugleich nicht seyn
kann; so muß man sich nur versichern, daß man bey der
Empfindung nicht einen Fehler des Erschleichens be-
gehe. (§. 554, 565, 566.) Zu solchen Beweisen ge-
brauchen wir verschiedene allgemeine Sätze. Z. E.
ein Theil sey nicht größer als das Ganze; ein Körper
könne nicht in einem kleinern Raum seyn, als er selbst
ist, ein gleicher Körper sey nicht an entlegenen Orten
zugleich; ein Zirkel sey nicht eckigt; eine Zahl sey
nicht eine größere oder kleinere; weiß sey nicht schwarz
etc. Vermittelst solcher Sätze bringen wir vornehm-
lich durch Schlüsse der zweyten Figur, (§. 232.) wo
der Untersatz eine positive Empfindung ist, verneinende
Sätze heraus. Am unmittelbarsten bringen wir
solche Schlüsse heraus, wenn wir die verschiedenen
Dinge zugleich und unter einerley Umständen empfin-
den, und so zu reden weiß auf schwarz setzen. Uebri-
gens sind gar wohl Fälle möglich, wo wir zu solchen
Schlüssen nicht genug Data haben, oder wo sie uns
mehr oder minder aus dem Gedächtniß sind. Man
sehe auch, was wir im ersten Hauptstücke (§. 19-23.)
von den veränderlichen Merkmaalen einzelner Dinge
angemerkt haben, weil dieses besonders dient, wenn
wir die Empfindungen, so wir zu verschiedenen Zei-
ten hatten, mit einander vergleichen wollen.

§. 591.

VIII. Hauptſtuͤck,
Noch weniger laͤßt ſich aus dem bloßen nicht Be-
wußtſeyn
ſchließen, die Sache ſelbſt ſey nicht, weil
es gar nicht nothwendig iſt, daß wir alle Sachen ſe-
hen oder empfinden, oder uns der empfundenen im-
mer bewußt ſeyn. Man muß demnach beweiſen koͤn-
nen, daß man die Sache nothwendig empfinden und
ſich der Empfindung bewußt ſeyn muͤßte, wenn ſie
da waͤre. Oder wenn man ſtatt der Sache eine an-
dre empfindet, welche mit derſelben zugleich nicht ſeyn
kann; ſo muß man ſich nur verſichern, daß man bey der
Empfindung nicht einen Fehler des Erſchleichens be-
gehe. (§. 554, 565, 566.) Zu ſolchen Beweiſen ge-
brauchen wir verſchiedene allgemeine Saͤtze. Z. E.
ein Theil ſey nicht groͤßer als das Ganze; ein Koͤrper
koͤnne nicht in einem kleinern Raum ſeyn, als er ſelbſt
iſt, ein gleicher Koͤrper ſey nicht an entlegenen Orten
zugleich; ein Zirkel ſey nicht eckigt; eine Zahl ſey
nicht eine groͤßere oder kleinere; weiß ſey nicht ſchwarz
ꝛc. Vermittelſt ſolcher Saͤtze bringen wir vornehm-
lich durch Schluͤſſe der zweyten Figur, (§. 232.) wo
der Unterſatz eine poſitive Empfindung iſt, verneinende
Saͤtze heraus. Am unmittelbarſten bringen wir
ſolche Schluͤſſe heraus, wenn wir die verſchiedenen
Dinge zugleich und unter einerley Umſtaͤnden empfin-
den, und ſo zu reden weiß auf ſchwarz ſetzen. Uebri-
gens ſind gar wohl Faͤlle moͤglich, wo wir zu ſolchen
Schluͤſſen nicht genug Data haben, oder wo ſie uns
mehr oder minder aus dem Gedaͤchtniß ſind. Man
ſehe auch, was wir im erſten Hauptſtuͤcke (§. 19-23.)
von den veraͤnderlichen Merkmaalen einzelner Dinge
angemerkt haben, weil dieſes beſonders dient, wenn
wir die Empfindungen, ſo wir zu verſchiedenen Zei-
ten hatten, mit einander vergleichen wollen.

§. 591.
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[380/0402] VIII. Hauptſtuͤck, Noch weniger laͤßt ſich aus dem bloßen nicht Be- wußtſeyn ſchließen, die Sache ſelbſt ſey nicht, weil es gar nicht nothwendig iſt, daß wir alle Sachen ſe- hen oder empfinden, oder uns der empfundenen im- mer bewußt ſeyn. Man muß demnach beweiſen koͤn- nen, daß man die Sache nothwendig empfinden und ſich der Empfindung bewußt ſeyn muͤßte, wenn ſie da waͤre. Oder wenn man ſtatt der Sache eine an- dre empfindet, welche mit derſelben zugleich nicht ſeyn kann; ſo muß man ſich nur verſichern, daß man bey der Empfindung nicht einen Fehler des Erſchleichens be- gehe. (§. 554, 565, 566.) Zu ſolchen Beweiſen ge- brauchen wir verſchiedene allgemeine Saͤtze. Z. E. ein Theil ſey nicht groͤßer als das Ganze; ein Koͤrper koͤnne nicht in einem kleinern Raum ſeyn, als er ſelbſt iſt, ein gleicher Koͤrper ſey nicht an entlegenen Orten zugleich; ein Zirkel ſey nicht eckigt; eine Zahl ſey nicht eine groͤßere oder kleinere; weiß ſey nicht ſchwarz ꝛc. Vermittelſt ſolcher Saͤtze bringen wir vornehm- lich durch Schluͤſſe der zweyten Figur, (§. 232.) wo der Unterſatz eine poſitive Empfindung iſt, verneinende Saͤtze heraus. Am unmittelbarſten bringen wir ſolche Schluͤſſe heraus, wenn wir die verſchiedenen Dinge zugleich und unter einerley Umſtaͤnden empfin- den, und ſo zu reden weiß auf ſchwarz ſetzen. Uebri- gens ſind gar wohl Faͤlle moͤglich, wo wir zu ſolchen Schluͤſſen nicht genug Data haben, oder wo ſie uns mehr oder minder aus dem Gedaͤchtniß ſind. Man ſehe auch, was wir im erſten Hauptſtuͤcke (§. 19-23.) von den veraͤnderlichen Merkmaalen einzelner Dinge angemerkt haben, weil dieſes beſonders dient, wenn wir die Empfindungen, ſo wir zu verſchiedenen Zei- ten hatten, mit einander vergleichen wollen. §. 591.

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/402>, abgerufen am 24.11.2024.