Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine fremde Erfahrung, an sich betrachtet, unrichtig oder unzuverläßig ist, dieselbe dennoch öfters Anlaß geben kann, der Sache selbst nachzudenken, und die Ver- besserung aufzusuchen. So z. E. konnte man bey Richers Beobachtung anstehen, ob nicht etwann seine Penduluhr aus andern Gründen wäre verstellt wor- den, ob nicht die Wärme das Pendul verlängert haben möchte etc. Allein dieses alles hätte Newton und Huygens nicht verhindert, ihren Satz festzusetzen, weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß war, der sie an die wahren Gründe und ihre Combi- nation denken machte. Auf diese Art bleiben in jeden Wissenschaften noch manche und auch an sich sehr leichte Combinationen von Vordersätzen zurück, die gleichsam auf Anlässe oder auf glückliche Einfälle warten, um wirklich combinirt zu werden. Man sehe hierüber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459) angemerkt haben.
§. 564.
Bey unsern eignen Erfahrungen findet sich das Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch individual, so, daß wir folglich allerdings mehr in dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde Erfahrungen erzählen lassen, wo es immer schwerer ist, unsern Begriff mit dem Begriffe des erzählenden genau passen zu machen, weil jeder den seinigen aus besondern Jndividualbegriffen zusammensetzt. Hin- gegen ist auch bey unsern eignen Erfahrungen nicht so gleich alles vollständig und richtig, zumal wenn sie sehr zusammengesetzt sind. Denn bey zusammen- gesetzten Empfindungen hat immer die stärkere die Oberhand, und wir sind uns derselben mehr
bewußt.
VIII. Hauptſtuͤck,
§. 563.
Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine fremde Erfahrung, an ſich betrachtet, unrichtig oder unzuverlaͤßig iſt, dieſelbe dennoch oͤfters Anlaß geben kann, der Sache ſelbſt nachzudenken, und die Ver- beſſerung aufzuſuchen. So z. E. konnte man bey Richers Beobachtung anſtehen, ob nicht etwann ſeine Penduluhr aus andern Gruͤnden waͤre verſtellt wor- den, ob nicht die Waͤrme das Pendul verlaͤngert haben moͤchte ꝛc. Allein dieſes alles haͤtte Newton und Huygens nicht verhindert, ihren Satz feſtzuſetzen, weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß war, der ſie an die wahren Gruͤnde und ihre Combi- nation denken machte. Auf dieſe Art bleiben in jeden Wiſſenſchaften noch manche und auch an ſich ſehr leichte Combinationen von Vorderſaͤtzen zuruͤck, die gleichſam auf Anlaͤſſe oder auf gluͤckliche Einfaͤlle warten, um wirklich combinirt zu werden. Man ſehe hieruͤber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459) angemerkt haben.
§. 564.
Bey unſern eignen Erfahrungen findet ſich das Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch individual, ſo, daß wir folglich allerdings mehr in dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde Erfahrungen erzaͤhlen laſſen, wo es immer ſchwerer iſt, unſern Begriff mit dem Begriffe des erzaͤhlenden genau paſſen zu machen, weil jeder den ſeinigen aus beſondern Jndividualbegriffen zuſammenſetzt. Hin- gegen iſt auch bey unſern eignen Erfahrungen nicht ſo gleich alles vollſtaͤndig und richtig, zumal wenn ſie ſehr zuſammengeſetzt ſind. Denn bey zuſammen- geſetzten Empfindungen hat immer die ſtaͤrkere die Oberhand, und wir ſind uns derſelben mehr
bewußt.
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VIII. Hauptſtuͤck,
§. 563.
Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine
fremde Erfahrung, an ſich betrachtet, unrichtig oder
unzuverlaͤßig iſt, dieſelbe dennoch oͤfters Anlaß geben
kann, der Sache ſelbſt nachzudenken, und die Ver-
beſſerung aufzuſuchen. So z. E. konnte man bey
Richers Beobachtung anſtehen, ob nicht etwann ſeine
Penduluhr aus andern Gruͤnden waͤre verſtellt wor-
den, ob nicht die Waͤrme das Pendul verlaͤngert haben
moͤchte ꝛc. Allein dieſes alles haͤtte Newton und
Huygens nicht verhindert, ihren Satz feſtzuſetzen,
weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß
war, der ſie an die wahren Gruͤnde und ihre Combi-
nation denken machte. Auf dieſe Art bleiben in jeden
Wiſſenſchaften noch manche und auch an ſich ſehr
leichte Combinationen von Vorderſaͤtzen zuruͤck, die
gleichſam auf Anlaͤſſe oder auf gluͤckliche Einfaͤlle
warten, um wirklich combinirt zu werden. Man ſehe
hieruͤber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459)
angemerkt haben.
§. 564.
Bey unſern eignen Erfahrungen findet ſich das
Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch
individual, ſo, daß wir folglich allerdings mehr in
dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde
Erfahrungen erzaͤhlen laſſen, wo es immer ſchwerer
iſt, unſern Begriff mit dem Begriffe des erzaͤhlenden
genau paſſen zu machen, weil jeder den ſeinigen aus
beſondern Jndividualbegriffen zuſammenſetzt. Hin-
gegen iſt auch bey unſern eignen Erfahrungen nicht ſo
gleich alles vollſtaͤndig und richtig, zumal wenn ſie
ſehr zuſammengeſetzt ſind. Denn bey zuſammen-
geſetzten Empfindungen hat immer die ſtaͤrkere
die Oberhand, und wir ſind uns derſelben mehr
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/378>, abgerufen am 24.11.2024.
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