zu 22, den Sinus eines sehr kleinen Bogens für den Bogen selbst, ein Stück des Circuli osculatoris für ein Stück der krummen Linie etc. Diese Hypothesen läßt man gelten, wo der Fehler nichts auf sich hat. Die andre Art kömmt in der Physik mehr vor, wo man, eine Sache zu erklären, gewisse Eigenschaf- ten ohne Beweis annimmt, oder derselben eine gewisse Structur andichtet. Von dieser Art sind die Hypo- thesen in der Sternkunde, wodurch man die Erschei- nungen in dem Laufe der Planeten zu erklären sucht. Solche Hypothesen gehören mit den willkührlich zusammengesetzten Begriffen (§. 65 seq.) in eine Klasse, und es ist eben das dabey zu bemerken.
§. 153.
Zu diesen Arten von Sätzen fügen die Mathe- matiker noch die Lemmata oder Lehnsätze. Dieses sind solche, die an dem Orte, wo sie sie gebrauchen, eigentlich nicht sollten erwiesen, sondern nur aus einer vorgehenden Wissenschaft, wo sie eigentlich hinge- hören, entlehnt werden. Da sie aber entweder in dieser Wissenschaft noch nicht vorkommen, oder wenn sie auch vorkommen, nicht die bekanntesten sind, so nimmt man sie an dem Orte, wo man sie gebraucht, ausdrücklich vor, und zeigt durch die Ueberschrift, und sodann durch den Zusammenhang selbst, daß ihr Vortrag an dem Orte keine Ausschweifung ist.
§. 154.
Ungeachtet alle diese in der Mathematik übliche Unterschiede der Sätze bloße Namen und Ueberschrif- ten sind, und die Sache selbst nicht ausmachen, so sehen wir doch, daß der Unterschied, den sie anzeigen, in den Sachen selbst ist, und daher jeder von diesen Sätzen seine eigene Merkmaale hat, die auch in An- sehung ihrer Erfindung, Beurtheilung und Vortra-
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von den Urtheilen und Fragen.
zu 22, den Sinus eines ſehr kleinen Bogens fuͤr den Bogen ſelbſt, ein Stuͤck des Circuli oſculatoris fuͤr ein Stuͤck der krummen Linie ꝛc. Dieſe Hypotheſen laͤßt man gelten, wo der Fehler nichts auf ſich hat. Die andre Art koͤmmt in der Phyſik mehr vor, wo man, eine Sache zu erklaͤren, gewiſſe Eigenſchaf- ten ohne Beweis annimmt, oder derſelben eine gewiſſe Structur andichtet. Von dieſer Art ſind die Hypo- theſen in der Sternkunde, wodurch man die Erſchei- nungen in dem Laufe der Planeten zu erklaͤren ſucht. Solche Hypotheſen gehoͤren mit den willkuͤhrlich zuſammengeſetzten Begriffen (§. 65 ſeq.) in eine Klaſſe, und es iſt eben das dabey zu bemerken.
§. 153.
Zu dieſen Arten von Saͤtzen fuͤgen die Mathe- matiker noch die Lemmata oder Lehnſaͤtze. Dieſes ſind ſolche, die an dem Orte, wo ſie ſie gebrauchen, eigentlich nicht ſollten erwieſen, ſondern nur aus einer vorgehenden Wiſſenſchaft, wo ſie eigentlich hinge- hoͤren, entlehnt werden. Da ſie aber entweder in dieſer Wiſſenſchaft noch nicht vorkommen, oder wenn ſie auch vorkommen, nicht die bekannteſten ſind, ſo nimmt man ſie an dem Orte, wo man ſie gebraucht, ausdruͤcklich vor, und zeigt durch die Ueberſchrift, und ſodann durch den Zuſammenhang ſelbſt, daß ihr Vortrag an dem Orte keine Ausſchweifung iſt.
§. 154.
Ungeachtet alle dieſe in der Mathematik uͤbliche Unterſchiede der Saͤtze bloße Namen und Ueberſchrif- ten ſind, und die Sache ſelbſt nicht ausmachen, ſo ſehen wir doch, daß der Unterſchied, den ſie anzeigen, in den Sachen ſelbſt iſt, und daher jeder von dieſen Saͤtzen ſeine eigene Merkmaale hat, die auch in An- ſehung ihrer Erfindung, Beurtheilung und Vortra-
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von den Urtheilen und Fragen.
zu 22, den Sinus eines ſehr kleinen Bogens fuͤr den
Bogen ſelbſt, ein Stuͤck des Circuli oſculatoris fuͤr
ein Stuͤck der krummen Linie ꝛc. Dieſe Hypotheſen
laͤßt man gelten, wo der Fehler nichts auf ſich hat.
Die andre Art koͤmmt in der Phyſik mehr vor,
wo man, eine Sache zu erklaͤren, gewiſſe Eigenſchaf-
ten ohne Beweis annimmt, oder derſelben eine gewiſſe
Structur andichtet. Von dieſer Art ſind die Hypo-
theſen in der Sternkunde, wodurch man die Erſchei-
nungen in dem Laufe der Planeten zu erklaͤren ſucht.
Solche Hypotheſen gehoͤren mit den willkuͤhrlich
zuſammengeſetzten Begriffen (§. 65 ſeq.) in eine
Klaſſe, und es iſt eben das dabey zu bemerken.
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Zu dieſen Arten von Saͤtzen fuͤgen die Mathe-
matiker noch die Lemmata oder Lehnſaͤtze. Dieſes
ſind ſolche, die an dem Orte, wo ſie ſie gebrauchen,
eigentlich nicht ſollten erwieſen, ſondern nur aus einer
vorgehenden Wiſſenſchaft, wo ſie eigentlich hinge-
hoͤren, entlehnt werden. Da ſie aber entweder in
dieſer Wiſſenſchaft noch nicht vorkommen, oder wenn
ſie auch vorkommen, nicht die bekannteſten ſind, ſo
nimmt man ſie an dem Orte, wo man ſie gebraucht,
ausdruͤcklich vor, und zeigt durch die Ueberſchrift,
und ſodann durch den Zuſammenhang ſelbſt, daß ihr
Vortrag an dem Orte keine Ausſchweifung iſt.
§. 154.
Ungeachtet alle dieſe in der Mathematik uͤbliche
Unterſchiede der Saͤtze bloße Namen und Ueberſchrif-
ten ſind, und die Sache ſelbſt nicht ausmachen, ſo
ſehen wir doch, daß der Unterſchied, den ſie anzeigen,
in den Sachen ſelbſt iſt, und daher jeder von dieſen
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/121>, abgerufen am 16.02.2025.
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