Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite

einem bestimmten Zeitalter anweiset. Denn der Sprache
zuvörderst ist doch ganz deutlich durch und durch der Stem-
pel der Jahrzehende auf der Gränze des zwölften und drei-
zehnten Jahrhunderts aufgedrückt, wiewohl noch hin und
wieder auch besonders einige Freiheiten der Wortfügung
auf eine etwas frühere Zeit hinzudeuten scheinen. Fer-
ner führt uns in eben jene Jahre die ausgezeichnete Rein-
heit der Reime, 4) die im zwölften Jahrhundert bis auf
Heinrich von Veldig niemand erreicht hatte; denn dieser
Dichter, der nach dem Ausdruck Gottfrieds von Straßburg
das erste Reis in deutscher Zunge impfte, hat zuerst das
bis dahin allgemeine Schwanken zwischen Reim und As-
sonanz durch seine strengen Reime fast ganz aufgehoben.
Eine Eigenthümlichkeit aber eben dieser Reime in unserem
Liede scheint eben so deutlich auf einen einzigen Dichter
des ganzen Werkes hinzuweisen; ich meine die sehr be-
merkliche Armuth, die sich überall in einer oft lange fort-
gesetzten Wiederhohlung derselben Reime und Reimwörter
offenbart 5). Dann ist ja aber die Darstellung gewiß im
Ganzen sich gleich genug; überall jedes in seiner Erschei-
nung rein ohne Schmuck dargestellt; überall dieselben Be-
schreibungen, besonders der Kleidung; dieselben Andeutun-
gen des Zukünftigen, bald das Nähere, eben so oft auch
den endlichen Schluß des Ganzen verkündigend. Dieses
Ganze selbst gibt sich als Eins: dem Dichter ist Kriemhil-
dens Rache an Siegfrieds Mördern und der Untergang der
anderen, die sie mit sich ins Verderben reißen; ihm ist in
höherem Sinne die Idee des Schicksals, das immer Leid
auf Freude muß folgen lassen, 6) das Bewegende und
Treibende des ganzen Werkes. Ja auch der Name des
Ganzen, der Nibelungen Noth, obwohl ihm hätte
ein passenderer mögen gegeben werden, 7) deutet bestimmt

einem beſtimmten Zeitalter anweiſet. Denn der Sprache
zuvörderſt iſt doch ganz deutlich durch und durch der Stem-
pel der Jahrzehende auf der Gränze des zwölften und drei-
zehnten Jahrhunderts aufgedrückt, wiewohl noch hin und
wieder auch beſonders einige Freiheiten der Wortfügung
auf eine etwas frühere Zeit hinzudeuten ſcheinen. Fer-
ner führt uns in eben jene Jahre die ausgezeichnete Rein-
heit der Reime, 4) die im zwölften Jahrhundert bis auf
Heinrich von Veldig niemand erreicht hatte; denn dieſer
Dichter, der nach dem Ausdruck Gottfrieds von Straßburg
das erſte Reis in deutſcher Zunge impfte, hat zuerſt das
bis dahin allgemeine Schwanken zwiſchen Reim und Aſ-
ſonanz durch ſeine ſtrengen Reime faſt ganz aufgehoben.
Eine Eigenthümlichkeit aber eben dieſer Reime in unſerem
Liede ſcheint eben ſo deutlich auf einen einzigen Dichter
des ganzen Werkes hinzuweiſen; ich meine die ſehr be-
merkliche Armuth, die ſich überall in einer oft lange fort-
geſetzten Wiederhohlung derſelben Reime und Reimwörter
offenbart 5). Dann iſt ja aber die Darſtellung gewiß im
Ganzen ſich gleich genug; überall jedes in ſeiner Erſchei-
nung rein ohne Schmuck dargeſtellt; überall dieſelben Be-
ſchreibungen, beſonders der Kleidung; dieſelben Andeutun-
gen des Zukünftigen, bald das Nähere, eben ſo oft auch
den endlichen Schluß des Ganzen verkündigend. Dieſes
Ganze ſelbſt gibt ſich als Eins: dem Dichter iſt Kriemhil-
dens Rache an Siegfrieds Mördern und der Untergang der
anderen, die ſie mit ſich ins Verderben reißen; ihm iſt in
höherem Sinne die Idee des Schickſals, das immer Leid
auf Freude muß folgen laſſen, 6) das Bewegende und
Treibende des ganzen Werkes. Ja auch der Name des
Ganzen, der Nibelungen Noth, obwohl ihm hätte
ein paſſenderer mögen gegeben werden, 7) deutet beſtimmt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014" n="6"/>
einem be&#x017F;timmten Zeitalter anwei&#x017F;et. Denn der Sprache<lb/>
zuvörder&#x017F;t i&#x017F;t doch ganz deutlich durch und durch der Stem-<lb/>
pel der Jahrzehende auf der Gränze des zwölften und drei-<lb/>
zehnten Jahrhunderts aufgedrückt, wiewohl noch hin und<lb/>
wieder auch be&#x017F;onders einige Freiheiten der Wortfügung<lb/>
auf eine etwas frühere Zeit hinzudeuten &#x017F;cheinen. Fer-<lb/>
ner führt uns in eben jene Jahre die ausgezeichnete Rein-<lb/>
heit der Reime, <note xml:id="en4" next="#en4-text" place="end" n="4)"/> die im zwölften Jahrhundert bis auf<lb/>
Heinrich von Veldig niemand erreicht hatte; denn die&#x017F;er<lb/>
Dichter, der nach dem Ausdruck Gottfrieds von Straßburg<lb/>
das er&#x017F;te Reis in deut&#x017F;cher Zunge impfte, hat zuer&#x017F;t das<lb/>
bis dahin allgemeine Schwanken zwi&#x017F;chen Reim und A&#x017F;-<lb/>
&#x017F;onanz durch &#x017F;eine &#x017F;trengen Reime fa&#x017F;t ganz aufgehoben.<lb/>
Eine Eigenthümlichkeit aber eben die&#x017F;er Reime in un&#x017F;erem<lb/>
Liede &#x017F;cheint eben &#x017F;o deutlich auf einen einzigen Dichter<lb/>
des ganzen Werkes hinzuwei&#x017F;en; ich meine die &#x017F;ehr be-<lb/>
merkliche Armuth, die &#x017F;ich überall in einer oft lange fort-<lb/>
ge&#x017F;etzten Wiederhohlung der&#x017F;elben Reime und Reimwörter<lb/>
offenbart <note xml:id="en5" next="#en5-text" place="end" n="5)"/>. Dann i&#x017F;t ja aber die Dar&#x017F;tellung gewiß im<lb/>
Ganzen &#x017F;ich gleich genug; überall jedes in &#x017F;einer Er&#x017F;chei-<lb/>
nung rein ohne Schmuck darge&#x017F;tellt; überall die&#x017F;elben Be-<lb/>
&#x017F;chreibungen, be&#x017F;onders der Kleidung; die&#x017F;elben Andeutun-<lb/>
gen des Zukünftigen, bald das Nähere, eben &#x017F;o oft auch<lb/>
den endlichen Schluß des Ganzen verkündigend. Die&#x017F;es<lb/>
Ganze &#x017F;elb&#x017F;t gibt &#x017F;ich als Eins: dem Dichter i&#x017F;t Kriemhil-<lb/>
dens Rache an Siegfrieds Mördern und der Untergang der<lb/>
anderen, die &#x017F;ie mit &#x017F;ich ins Verderben reißen; ihm i&#x017F;t in<lb/>
höherem Sinne die Idee des Schick&#x017F;als, das immer Leid<lb/>
auf Freude muß folgen la&#x017F;&#x017F;en, <note xml:id="en6" next="#en6-text" place="end" n="6)"/> das Bewegende und<lb/>
Treibende des ganzen Werkes. Ja auch der Name des<lb/>
Ganzen, <hi rendition="#g">der Nibelungen Noth</hi>, obwohl ihm hätte<lb/>
ein pa&#x017F;&#x017F;enderer mögen gegeben werden, <note xml:id="en7" next="#en7-text" place="end" n="7)"/> deutet be&#x017F;timmt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0014] einem beſtimmten Zeitalter anweiſet. Denn der Sprache zuvörderſt iſt doch ganz deutlich durch und durch der Stem- pel der Jahrzehende auf der Gränze des zwölften und drei- zehnten Jahrhunderts aufgedrückt, wiewohl noch hin und wieder auch beſonders einige Freiheiten der Wortfügung auf eine etwas frühere Zeit hinzudeuten ſcheinen. Fer- ner führt uns in eben jene Jahre die ausgezeichnete Rein- heit der Reime, ⁴⁾ die im zwölften Jahrhundert bis auf Heinrich von Veldig niemand erreicht hatte; denn dieſer Dichter, der nach dem Ausdruck Gottfrieds von Straßburg das erſte Reis in deutſcher Zunge impfte, hat zuerſt das bis dahin allgemeine Schwanken zwiſchen Reim und Aſ- ſonanz durch ſeine ſtrengen Reime faſt ganz aufgehoben. Eine Eigenthümlichkeit aber eben dieſer Reime in unſerem Liede ſcheint eben ſo deutlich auf einen einzigen Dichter des ganzen Werkes hinzuweiſen; ich meine die ſehr be- merkliche Armuth, die ſich überall in einer oft lange fort- geſetzten Wiederhohlung derſelben Reime und Reimwörter offenbart ⁵⁾ . Dann iſt ja aber die Darſtellung gewiß im Ganzen ſich gleich genug; überall jedes in ſeiner Erſchei- nung rein ohne Schmuck dargeſtellt; überall dieſelben Be- ſchreibungen, beſonders der Kleidung; dieſelben Andeutun- gen des Zukünftigen, bald das Nähere, eben ſo oft auch den endlichen Schluß des Ganzen verkündigend. Dieſes Ganze ſelbſt gibt ſich als Eins: dem Dichter iſt Kriemhil- dens Rache an Siegfrieds Mördern und der Untergang der anderen, die ſie mit ſich ins Verderben reißen; ihm iſt in höherem Sinne die Idee des Schickſals, das immer Leid auf Freude muß folgen laſſen, ⁶⁾ das Bewegende und Treibende des ganzen Werkes. Ja auch der Name des Ganzen, der Nibelungen Noth, obwohl ihm hätte ein paſſenderer mögen gegeben werden, ⁷⁾ deutet beſtimmt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/14
Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/14>, abgerufen am 24.11.2024.