Aussicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutsche Bund war in den wenigen Jahren seines Bestehens über die erwähnten Grund- linien hinausgegangen und hatte die verfassungsmäßig fixirten Punkte verschoben.
Er hatte nämlich erstens eine eigene Gerichtsbarkeit des Bundes anerkannt und organisirt in dem Gesetz vom 12. Juni 1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig 1) und dieses Gesetz ist bei der Errichtung des Deutschen Reiches als Reichsgesetz anerkannt und auf die süddeutschen Staaten und El- saß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier von Neuem erörtert werden soll, ob der Erlaß dieses Gesetzes zur Kompetenz des Norddeutschen Bundes gehörte oder nicht und ob das Gesetz mit dem Wortlaut der Bundesverfassung im Einklang steht oder nicht 2), muß hier doch betont werden, daß es in Wahr- heit die weitaus erheblichste Aenderung bedeutete, welche der Ver- fassungszustand des Norddeutschen Bundes überhaupt von seiner Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier wurden nicht den Einzelstaaten Vorschriften ertheilt, wie sie die Gerichtsbarkeit auszuüben haben, sondern in den zur Zuständigkeit des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge- richtsbarkeit dritter Instanz genommen und auf den Bund über- tragen. Soweit nicht prozessualische Vorschriften im Wege standen, d. h. soweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel den Parteien die Möglichkeit abschnitten, die Rechtsstreitigkeiten an das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelstaaten jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige Entscheidungen fällen zu lassen; denn diese Entscheidungen wurden nur unter der Voraussetzung rechtskräftig, daß sich die Parteien bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem sie die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten in den zur Zuständigkeit des Ober- handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen; die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Instanz, d. h.
1) Siehe Bd. I. S. 360 ff.
2) Das Gesetz ist in jedem Falle verfassungsmäßig zu Stande gekommen, da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität sanctionirt worden ist. Siehe oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff.
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§. 96. Einleitung.
Ausſicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutſche Bund war in den wenigen Jahren ſeines Beſtehens über die erwähnten Grund- linien hinausgegangen und hatte die verfaſſungsmäßig fixirten Punkte verſchoben.
Er hatte nämlich erſtens eine eigene Gerichtsbarkeit des Bundes anerkannt und organiſirt in dem Geſetz vom 12. Juni 1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig 1) und dieſes Geſetz iſt bei der Errichtung des Deutſchen Reiches als Reichsgeſetz anerkannt und auf die ſüddeutſchen Staaten und El- ſaß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier von Neuem erörtert werden ſoll, ob der Erlaß dieſes Geſetzes zur Kompetenz des Norddeutſchen Bundes gehörte oder nicht und ob das Geſetz mit dem Wortlaut der Bundesverfaſſung im Einklang ſteht oder nicht 2), muß hier doch betont werden, daß es in Wahr- heit die weitaus erheblichſte Aenderung bedeutete, welche der Ver- faſſungszuſtand des Norddeutſchen Bundes überhaupt von ſeiner Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier wurden nicht den Einzelſtaaten Vorſchriften ertheilt, wie ſie die Gerichtsbarkeit auszuüben haben, ſondern in den zur Zuſtändigkeit des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge- richtsbarkeit dritter Inſtanz genommen und auf den Bund über- tragen. Soweit nicht prozeſſualiſche Vorſchriften im Wege ſtanden, d. h. ſoweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel den Parteien die Möglichkeit abſchnitten, die Rechtsſtreitigkeiten an das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelſtaaten jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige Entſcheidungen fällen zu laſſen; denn dieſe Entſcheidungen wurden nur unter der Vorausſetzung rechtskräftig, daß ſich die Parteien bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem ſie die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten in den zur Zuſtändigkeit des Ober- handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen; die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Inſtanz, d. h.
1) Siehe Bd. I. S. 360 ff.
2) Das Geſetz iſt in jedem Falle verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen, da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität ſanctionirt worden iſt. Siehe oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff.
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§. 96. Einleitung.
Ausſicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutſche Bund war
in den wenigen Jahren ſeines Beſtehens über die erwähnten Grund-
linien hinausgegangen und hatte die verfaſſungsmäßig fixirten
Punkte verſchoben.
Er hatte nämlich erſtens eine eigene Gerichtsbarkeit
des Bundes anerkannt und organiſirt in dem Geſetz vom 12. Juni
1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig 1)
und dieſes Geſetz iſt bei der Errichtung des Deutſchen Reiches als
Reichsgeſetz anerkannt und auf die ſüddeutſchen Staaten und El-
ſaß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier
von Neuem erörtert werden ſoll, ob der Erlaß dieſes Geſetzes zur
Kompetenz des Norddeutſchen Bundes gehörte oder nicht und ob
das Geſetz mit dem Wortlaut der Bundesverfaſſung im Einklang
ſteht oder nicht 2), muß hier doch betont werden, daß es in Wahr-
heit die weitaus erheblichſte Aenderung bedeutete, welche der Ver-
faſſungszuſtand des Norddeutſchen Bundes überhaupt von ſeiner
Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier
wurden nicht den Einzelſtaaten Vorſchriften ertheilt, wie ſie die
Gerichtsbarkeit auszuüben haben, ſondern in den zur Zuſtändigkeit
des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge-
richtsbarkeit dritter Inſtanz genommen und auf den Bund über-
tragen. Soweit nicht prozeſſualiſche Vorſchriften im Wege ſtanden,
d. h. ſoweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel
den Parteien die Möglichkeit abſchnitten, die Rechtsſtreitigkeiten an
das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelſtaaten
jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige
Entſcheidungen fällen zu laſſen; denn dieſe Entſcheidungen wurden
nur unter der Vorausſetzung rechtskräftig, daß ſich die Parteien
bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem ſie
die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der
Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten in den zur Zuſtändigkeit des Ober-
handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen;
die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen
Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Inſtanz, d. h.
1) Siehe Bd. I. S. 360 ff.
2) Das Geſetz iſt in jedem Falle verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen,
da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität ſanctionirt worden iſt. Siehe
oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht0302_1882/13>, abgerufen am 16.02.2025.
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