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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 58. Gesetze im formellen Sinne.
petenz des Reiches normirt und das Wort Gesetzgebung im ma-
teriellen Sinne verstanden. Wenn von dem im Art. 4 Nro. 10 der
Reichsgesetzgebung zugewiesenen Bereich im Art. 48 Abs. 2 ein
Theil wieder ausgenommen wird, so kann das an sich nur den
Sinn haben, daß dieser Theil nicht zur Kompetenz des Reiches,
mithin also zur Kompetenz der Einzelstaaten gehören soll. Diesen
Sinn aber hat Art. 48 Abs. 2 nicht; vielmehr bestimmt Art. 50
Abs. 2 ausdrücklich, daß der Erlaß der reglementarischen Fest-
setzungen und allgemeinen administrativen Anordnungen dem Kaiser
zusteht. Es ist also nicht die Kompetenz des Reiches ausgeschlossen,
denn der Kaiser ist ja ein Organ des Reiches; sondern es ist die
Form des Reichsgesetzes ausgeschlossen und durch die der kaiserl.
Verordnung ersetzt. Die im Art. 4 vorgesehene Gesetzgebung
des Reiches ist die Gesetzgebungs-Befugniß; im Art. 48 Abs. 2
wird dagegen dem Worte die Bedeutung der Gesetzgebungs-Form
untergelegt; bei der Berufung auf Art. 4 also die materielle mit
der formellen Bedeutung verwechselt.

Ganz dasselbe gilt von Art. 11 Abs. 2. Nur ist hier die
Verwechslung weniger sicher zu erkennen und deshalb eine ver-
schiedene Auslegung des Artikels eher möglich. Derselbe ordnet
an, daß insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche
Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich
der Reichsgesetzgebung
gehören, zu ihrem Abschluß die Zu-
stimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Geneh-
migung des Reichstages erforderlich ist. Obwohl nach dieser Aus-
drucksweise es auf den ersten Blick kaum zweifelhaft erscheint, daß
das Wort Reichsgesetzgebung hier -- ebenso wie im Art. 4 -- im
materiellen Sinne genommen ist, so ist der wahre Sinn dieses Ar-
tikels doch nur dann zu gewinnen, wenn man unter dem Bereich
der Reichsgesetzgebung denjenigen Kreis von Willensentschlüssen
versteht, für welchen die Form des Reichsgesetzes nothwendig ist.
Art. 11 Abs. 2 will Bundesrath und Reichstag dagegen schützen,
daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht werden könne, um
die Form des Reichsgesetzes zu umgehen 1).


1) Vgl. Bd. I S. 511 und unten die Lehre vom Abschluß von Staats-
verträgen §. 64.

§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
petenz des Reiches normirt und das Wort Geſetzgebung im ma-
teriellen Sinne verſtanden. Wenn von dem im Art. 4 Nro. 10 der
Reichsgeſetzgebung zugewieſenen Bereich im Art. 48 Abſ. 2 ein
Theil wieder ausgenommen wird, ſo kann das an ſich nur den
Sinn haben, daß dieſer Theil nicht zur Kompetenz des Reiches,
mithin alſo zur Kompetenz der Einzelſtaaten gehören ſoll. Dieſen
Sinn aber hat Art. 48 Abſ. 2 nicht; vielmehr beſtimmt Art. 50
Abſ. 2 ausdrücklich, daß der Erlaß der reglementariſchen Feſt-
ſetzungen und allgemeinen adminiſtrativen Anordnungen dem Kaiſer
zuſteht. Es iſt alſo nicht die Kompetenz des Reiches ausgeſchloſſen,
denn der Kaiſer iſt ja ein Organ des Reiches; ſondern es iſt die
Form des Reichsgeſetzes ausgeſchloſſen und durch die der kaiſerl.
Verordnung erſetzt. Die im Art. 4 vorgeſehene Geſetzgebung
des Reiches iſt die Geſetzgebungs-Befugniß; im Art. 48 Abſ. 2
wird dagegen dem Worte die Bedeutung der Geſetzgebungs-Form
untergelegt; bei der Berufung auf Art. 4 alſo die materielle mit
der formellen Bedeutung verwechſelt.

Ganz daſſelbe gilt von Art. 11 Abſ. 2. Nur iſt hier die
Verwechslung weniger ſicher zu erkennen und deshalb eine ver-
ſchiedene Auslegung des Artikels eher möglich. Derſelbe ordnet
an, daß inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf ſolche
Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich
der Reichsgeſetzgebung
gehören, zu ihrem Abſchluß die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Geneh-
migung des Reichstages erforderlich iſt. Obwohl nach dieſer Aus-
drucksweiſe es auf den erſten Blick kaum zweifelhaft erſcheint, daß
das Wort Reichsgeſetzgebung hier — ebenſo wie im Art. 4 — im
materiellen Sinne genommen iſt, ſo iſt der wahre Sinn dieſes Ar-
tikels doch nur dann zu gewinnen, wenn man unter dem Bereich
der Reichsgeſetzgebung denjenigen Kreis von Willensentſchlüſſen
verſteht, für welchen die Form des Reichsgeſetzes nothwendig iſt.
Art. 11 Abſ. 2 will Bundesrath und Reichstag dagegen ſchützen,
daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht werden könne, um
die Form des Reichsgeſetzes zu umgehen 1).


1) Vgl. Bd. I S. 511 und unten die Lehre vom Abſchluß von Staats-
verträgen §. 64.
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[66/0080] §. 58. Geſetze im formellen Sinne. petenz des Reiches normirt und das Wort Geſetzgebung im ma- teriellen Sinne verſtanden. Wenn von dem im Art. 4 Nro. 10 der Reichsgeſetzgebung zugewieſenen Bereich im Art. 48 Abſ. 2 ein Theil wieder ausgenommen wird, ſo kann das an ſich nur den Sinn haben, daß dieſer Theil nicht zur Kompetenz des Reiches, mithin alſo zur Kompetenz der Einzelſtaaten gehören ſoll. Dieſen Sinn aber hat Art. 48 Abſ. 2 nicht; vielmehr beſtimmt Art. 50 Abſ. 2 ausdrücklich, daß der Erlaß der reglementariſchen Feſt- ſetzungen und allgemeinen adminiſtrativen Anordnungen dem Kaiſer zuſteht. Es iſt alſo nicht die Kompetenz des Reiches ausgeſchloſſen, denn der Kaiſer iſt ja ein Organ des Reiches; ſondern es iſt die Form des Reichsgeſetzes ausgeſchloſſen und durch die der kaiſerl. Verordnung erſetzt. Die im Art. 4 vorgeſehene Geſetzgebung des Reiches iſt die Geſetzgebungs-Befugniß; im Art. 48 Abſ. 2 wird dagegen dem Worte die Bedeutung der Geſetzgebungs-Form untergelegt; bei der Berufung auf Art. 4 alſo die materielle mit der formellen Bedeutung verwechſelt. Ganz daſſelbe gilt von Art. 11 Abſ. 2. Nur iſt hier die Verwechslung weniger ſicher zu erkennen und deshalb eine ver- ſchiedene Auslegung des Artikels eher möglich. Derſelbe ordnet an, daß inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören, zu ihrem Abſchluß die Zu- ſtimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Geneh- migung des Reichstages erforderlich iſt. Obwohl nach dieſer Aus- drucksweiſe es auf den erſten Blick kaum zweifelhaft erſcheint, daß das Wort Reichsgeſetzgebung hier — ebenſo wie im Art. 4 — im materiellen Sinne genommen iſt, ſo iſt der wahre Sinn dieſes Ar- tikels doch nur dann zu gewinnen, wenn man unter dem Bereich der Reichsgeſetzgebung denjenigen Kreis von Willensentſchlüſſen verſteht, für welchen die Form des Reichsgeſetzes nothwendig iſt. Art. 11 Abſ. 2 will Bundesrath und Reichstag dagegen ſchützen, daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht werden könne, um die Form des Reichsgeſetzes zu umgehen 1). 1) Vgl. Bd. I S. 511 und unten die Lehre vom Abſchluß von Staats- verträgen §. 64.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/80>, abgerufen am 23.11.2024.