vertrages die verfassungsmäßige Grenzlinie der Reichskompetenz abgeändert werden soll; folglich kann der Kaiser nicht durch die Verfassung selbst die Befugniß erhalten haben, ohne Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages Staatsverträge über Gegen- stände zu schließen, welche nicht zur verfassungsmäßigen Kompetenz des Reiches gehören.
Man könnte darnach versucht sein, den Art. 11 in der Art zu interpretiren, daß der Kaiser zwar Verträge nur innerhalb der dem Reiche zustehenden Kompetenz abschließen dürfe, daß aber die Kompetenz des Reiches in zwei Kreise zerfällt, von denen der eine durch die im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Angelegenheiten gebildet wird, der andere dagegen durch solche Angelegenheiten, auf welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere Bestimmung der R.-V. oder der Reichsgesetze erstreckt wird 1). Dies ist aber nicht weniger absurd. Darnach würden z. B. die Finanzen des Reiches, welche im Art. 4 der R.-V. als selbstverständlich unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten nicht besonders aufgeführt worden sind, zu denjenigen Gegenständen gehören, auf welche die beschränkende Vorschrift des Art. 11 Abs. 3 keine Anwendung findet. Dasselbe würde von allen denjenigen An- gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich erstreckt worden ist, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Ver- änderung erfahren hat. Es würde in der That dem Umstande, daß eine Befugniß des Reiches grade im Art. 4 der R.-V. und nicht durch eine andere Gesetzesbestimmung anerkannt oder begrün- det ist, eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abschluß von Staatsverträgen beigelegt worden sein. Art. 4 würde hinsichtlich der Gesetzgebung die Kompetenz des Reiches gegen die Kompe- tenz der Einzelstaaten, dagegen hinsichtlich der Vertragsschlies- sung die Kompetenz des Kaisers gegen die Kompetenz des Bun- desrathes und Reichstages abgrenzen.
Andererseits stehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten, welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, auch Verwaltungsbefugnisse zu. Der Art. 4 bestimmt durchaus nicht, daß das Reich hinsichtlich der daselbst aufgezählten
1) Dies behauptet HiersemenzelI. S. 51 Nro. 3. Vgl. dagegen Riedel S. 106 Ziff. 11.
§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
vertrages die verfaſſungsmäßige Grenzlinie der Reichskompetenz abgeändert werden ſoll; folglich kann der Kaiſer nicht durch die Verfaſſung ſelbſt die Befugniß erhalten haben, ohne Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages Staatsverträge über Gegen- ſtände zu ſchließen, welche nicht zur verfaſſungsmäßigen Kompetenz des Reiches gehören.
Man könnte darnach verſucht ſein, den Art. 11 in der Art zu interpretiren, daß der Kaiſer zwar Verträge nur innerhalb der dem Reiche zuſtehenden Kompetenz abſchließen dürfe, daß aber die Kompetenz des Reiches in zwei Kreiſe zerfällt, von denen der eine durch die im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Angelegenheiten gebildet wird, der andere dagegen durch ſolche Angelegenheiten, auf welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere Beſtimmung der R.-V. oder der Reichsgeſetze erſtreckt wird 1). Dies iſt aber nicht weniger abſurd. Darnach würden z. B. die Finanzen des Reiches, welche im Art. 4 der R.-V. als ſelbſtverſtändlich unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten nicht beſonders aufgeführt worden ſind, zu denjenigen Gegenſtänden gehören, auf welche die beſchränkende Vorſchrift des Art. 11 Abſ. 3 keine Anwendung findet. Daſſelbe würde von allen denjenigen An- gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich erſtreckt worden iſt, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Ver- änderung erfahren hat. Es würde in der That dem Umſtande, daß eine Befugniß des Reiches grade im Art. 4 der R.-V. und nicht durch eine andere Geſetzesbeſtimmung anerkannt oder begrün- det iſt, eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abſchluß von Staatsverträgen beigelegt worden ſein. Art. 4 würde hinſichtlich der Geſetzgebung die Kompetenz des Reiches gegen die Kompe- tenz der Einzelſtaaten, dagegen hinſichtlich der Vertragsſchlieſ- ſung die Kompetenz des Kaiſers gegen die Kompetenz des Bun- desrathes und Reichstages abgrenzen.
Andererſeits ſtehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten, welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören, auch Verwaltungsbefugniſſe zu. Der Art. 4 beſtimmt durchaus nicht, daß das Reich hinſichtlich der daſelbſt aufgezählten
1) Dies behauptet HierſemenzelI. S. 51 Nro. 3. Vgl. dagegen Riedel S. 106 Ziff. 11.
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§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
vertrages die verfaſſungsmäßige Grenzlinie der Reichskompetenz
abgeändert werden ſoll; folglich kann der Kaiſer nicht durch die
Verfaſſung ſelbſt die Befugniß erhalten haben, ohne Zuſtimmung
des Bundesrathes und Reichstages Staatsverträge über Gegen-
ſtände zu ſchließen, welche nicht zur verfaſſungsmäßigen Kompetenz
des Reiches gehören.
Man könnte darnach verſucht ſein, den Art. 11 in der Art zu
interpretiren, daß der Kaiſer zwar Verträge nur innerhalb der
dem Reiche zuſtehenden Kompetenz abſchließen dürfe, daß aber die
Kompetenz des Reiches in zwei Kreiſe zerfällt, von denen der eine
durch die im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Angelegenheiten
gebildet wird, der andere dagegen durch ſolche Angelegenheiten,
auf welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere
Beſtimmung der R.-V. oder der Reichsgeſetze erſtreckt wird 1). Dies
iſt aber nicht weniger abſurd. Darnach würden z. B. die Finanzen
des Reiches, welche im Art. 4 der R.-V. als ſelbſtverſtändlich
unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten
nicht beſonders aufgeführt worden ſind, zu denjenigen Gegenſtänden
gehören, auf welche die beſchränkende Vorſchrift des Art. 11 Abſ. 3
keine Anwendung findet. Daſſelbe würde von allen denjenigen An-
gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich
erſtreckt worden iſt, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Ver-
änderung erfahren hat. Es würde in der That dem Umſtande,
daß eine Befugniß des Reiches grade im Art. 4 der R.-V. und
nicht durch eine andere Geſetzesbeſtimmung anerkannt oder begrün-
det iſt, eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abſchluß von
Staatsverträgen beigelegt worden ſein. Art. 4 würde hinſichtlich
der Geſetzgebung die Kompetenz des Reiches gegen die Kompe-
tenz der Einzelſtaaten, dagegen hinſichtlich der Vertragsſchlieſ-
ſung die Kompetenz des Kaiſers gegen die Kompetenz des Bun-
desrathes und Reichstages abgrenzen.
Andererſeits ſtehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten,
welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung
gehören, auch Verwaltungsbefugniſſe zu. Der Art. 4 beſtimmt
durchaus nicht, daß das Reich hinſichtlich der daſelbſt aufgezählten
1) Dies behauptet Hierſemenzel I. S. 51 Nro. 3. Vgl. dagegen
Riedel S. 106 Ziff. 11.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/180>, abgerufen am 23.07.2024.
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