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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze.

Im Uebrigen aber gibt diese Bestimmung der R.-V. noch zu
folgenden Erörterungen Anlaß:

1) Das Motiv, aus welchem der Anfang der rechtsverbind-
lichen Kraft eines Reichsgesetzes um einen Zeitraum von 14 Tagen
nach der Verkündigung hinausgeschoben wird, ist zweifellos darin
zu suchen, daß die allgemeine Kundbarkeit des Reichsgesetzes und
zwar sowohl seines Wortlautes als der Thatsache seiner Verkündi-
gung, ermöglicht werden soll, bevor das Gesetz in Kraft tritt. Die
Form der Verkündigung durch die Presse dient ja vorzugsweise
dem Zweck, das Gesetz allgemein bekannt zu machen; dieser Zweck
aber wird durch den Abdruck selbst noch nicht erreicht, sondern
erst durch die Verbreitung des Abdruckes. Aber man darf
dieses Motiv eines Rechtssatzes nicht selbst zum Rechtssatz er-
heben. Gemeinkundigkeit des Gesetzes ist in keiner
Beziehung eine Voraussetzung seiner Gültigkeit
.

Der Art. 2 der R.-V. stellt keine Fiktion auf, daß nach Ab-
lauf der 14tägigen Frist das Reichsgesetz allgemein bekannt sei 1).
Durch eine Vergleichung mit dem Art. 1 des Code civil, welcher
das Vorbild für die ähnlichen Anordnungen der Deutschen Landes-
gesetzgebungen geliefert hat, wird die Tragweite dieses Satzes
deutlich. Der französische Gesetzgeber ging von der Anschauung
aus, daß die Gesetze nicht verpflichten können, ohne bekannt zu
sein; da man sie aber nicht jedem Einzelnen bekannt machen könne,
so sei man genöthigt, sich mit einer öffentlichen Kundmachung zu
begnügen und eine Frist aufzustellen, nach Ablauf deren die Fiktion
eintrete, daß Jedermann sich die Kenntniß des Gesetzes verschafft
habe 2). Dem entsprechend wird im Art. 1 Abs. 2 des Cod. civ.
die Möglichkeit, daß die Verkündigung des Gesetzes öffentlich be-
kannt sei, zur ausdrücklichen Bedingung der Vollstreckbarkeit eines
Gesetzes gemacht. "Elles seront executees dans chaque partie de
l'Empire, du moment ou la promulgation en pourra etre con-

1) Diese Theorie findet sich bei Böhlau, Meckl. Landr. I. S. 413 ff.
Er nimmt an, daß Gemeinkundigkeit zur Vollendung der Publikation gehöre
und daß im Art. 2 der R.-V. eine Fiktion aufgestellt werde, deren Gegen-
stand "die Vollendung des Publikations-Aktes" (?) sei.
2) Diese Deduction entwickelt Portalis im Discours preliminaire du
projet de Code civil Nro. 25 (Locre, La Legislation de la France
I.
S. 268).
§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.

Im Uebrigen aber gibt dieſe Beſtimmung der R.-V. noch zu
folgenden Erörterungen Anlaß:

1) Das Motiv, aus welchem der Anfang der rechtsverbind-
lichen Kraft eines Reichsgeſetzes um einen Zeitraum von 14 Tagen
nach der Verkündigung hinausgeſchoben wird, iſt zweifellos darin
zu ſuchen, daß die allgemeine Kundbarkeit des Reichsgeſetzes und
zwar ſowohl ſeines Wortlautes als der Thatſache ſeiner Verkündi-
gung, ermöglicht werden ſoll, bevor das Geſetz in Kraft tritt. Die
Form der Verkündigung durch die Preſſe dient ja vorzugsweiſe
dem Zweck, das Geſetz allgemein bekannt zu machen; dieſer Zweck
aber wird durch den Abdruck ſelbſt noch nicht erreicht, ſondern
erſt durch die Verbreitung des Abdruckes. Aber man darf
dieſes Motiv eines Rechtsſatzes nicht ſelbſt zum Rechtsſatz er-
heben. Gemeinkundigkeit des Geſetzes iſt in keiner
Beziehung eine Vorausſetzung ſeiner Gültigkeit
.

Der Art. 2 der R.-V. ſtellt keine Fiktion auf, daß nach Ab-
lauf der 14tägigen Friſt das Reichsgeſetz allgemein bekannt ſei 1).
Durch eine Vergleichung mit dem Art. 1 des Code civil, welcher
das Vorbild für die ähnlichen Anordnungen der Deutſchen Landes-
geſetzgebungen geliefert hat, wird die Tragweite dieſes Satzes
deutlich. Der franzöſiſche Geſetzgeber ging von der Anſchauung
aus, daß die Geſetze nicht verpflichten können, ohne bekannt zu
ſein; da man ſie aber nicht jedem Einzelnen bekannt machen könne,
ſo ſei man genöthigt, ſich mit einer öffentlichen Kundmachung zu
begnügen und eine Friſt aufzuſtellen, nach Ablauf deren die Fiktion
eintrete, daß Jedermann ſich die Kenntniß des Geſetzes verſchafft
habe 2). Dem entſprechend wird im Art. 1 Abſ. 2 des Cod. civ.
die Möglichkeit, daß die Verkündigung des Geſetzes öffentlich be-
kannt ſei, zur ausdrücklichen Bedingung der Vollſtreckbarkeit eines
Geſetzes gemacht. »Elles seront exécutées dans chaque partie de
l’Empire, du moment où la promulgation en pourra être con-

1) Dieſe Theorie findet ſich bei Böhlau, Meckl. Landr. I. S. 413 ff.
Er nimmt an, daß Gemeinkundigkeit zur Vollendung der Publikation gehöre
und daß im Art. 2 der R.-V. eine Fiktion aufgeſtellt werde, deren Gegen-
ſtand „die Vollendung des Publikations-Aktes“ (?) ſei.
2) Dieſe Deduction entwickelt Portalis im Discours préliminaire du
projet de Code civil Nro. 25 (Locré, La Législation de la France
I.
S. 268).
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[101/0115] §. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze. Im Uebrigen aber gibt dieſe Beſtimmung der R.-V. noch zu folgenden Erörterungen Anlaß: 1) Das Motiv, aus welchem der Anfang der rechtsverbind- lichen Kraft eines Reichsgeſetzes um einen Zeitraum von 14 Tagen nach der Verkündigung hinausgeſchoben wird, iſt zweifellos darin zu ſuchen, daß die allgemeine Kundbarkeit des Reichsgeſetzes und zwar ſowohl ſeines Wortlautes als der Thatſache ſeiner Verkündi- gung, ermöglicht werden ſoll, bevor das Geſetz in Kraft tritt. Die Form der Verkündigung durch die Preſſe dient ja vorzugsweiſe dem Zweck, das Geſetz allgemein bekannt zu machen; dieſer Zweck aber wird durch den Abdruck ſelbſt noch nicht erreicht, ſondern erſt durch die Verbreitung des Abdruckes. Aber man darf dieſes Motiv eines Rechtsſatzes nicht ſelbſt zum Rechtsſatz er- heben. Gemeinkundigkeit des Geſetzes iſt in keiner Beziehung eine Vorausſetzung ſeiner Gültigkeit. Der Art. 2 der R.-V. ſtellt keine Fiktion auf, daß nach Ab- lauf der 14tägigen Friſt das Reichsgeſetz allgemein bekannt ſei 1). Durch eine Vergleichung mit dem Art. 1 des Code civil, welcher das Vorbild für die ähnlichen Anordnungen der Deutſchen Landes- geſetzgebungen geliefert hat, wird die Tragweite dieſes Satzes deutlich. Der franzöſiſche Geſetzgeber ging von der Anſchauung aus, daß die Geſetze nicht verpflichten können, ohne bekannt zu ſein; da man ſie aber nicht jedem Einzelnen bekannt machen könne, ſo ſei man genöthigt, ſich mit einer öffentlichen Kundmachung zu begnügen und eine Friſt aufzuſtellen, nach Ablauf deren die Fiktion eintrete, daß Jedermann ſich die Kenntniß des Geſetzes verſchafft habe 2). Dem entſprechend wird im Art. 1 Abſ. 2 des Cod. civ. die Möglichkeit, daß die Verkündigung des Geſetzes öffentlich be- kannt ſei, zur ausdrücklichen Bedingung der Vollſtreckbarkeit eines Geſetzes gemacht. »Elles seront exécutées dans chaque partie de l’Empire, du moment où la promulgation en pourra être con- 1) Dieſe Theorie findet ſich bei Böhlau, Meckl. Landr. I. S. 413 ff. Er nimmt an, daß Gemeinkundigkeit zur Vollendung der Publikation gehöre und daß im Art. 2 der R.-V. eine Fiktion aufgeſtellt werde, deren Gegen- ſtand „die Vollendung des Publikations-Aktes“ (?) ſei. 2) Dieſe Deduction entwickelt Portalis im Discours préliminaire du projet de Code civil Nro. 25 (Locré, La Législation de la France I. S. 268).

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/115>, abgerufen am 27.11.2024.