Beschränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz -- in seinen wichtigsten wirthschaftlichen und politischen Lebensfunktionen führen kann. Bei einer so ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma- joritätsbeschlüsse anerkennen, heißt nicht, sich mit Gleichberechtigten zur gemeinsamen Durchführung bestimmter Zwecke und Willensent- schlüsse vergesellschaften, sondern sich dem Willen der Gesammtheit als einem höheren Willen unterwerfen.
Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die Kompetenz überhaupt begrenzt ist, nicht auf die Art, wie sie be- grenzt ist, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An- gelegenheiten noch als einzelne und bestimmte Hoheitsrechte gelten lassen, so macht doch Art. 78 auch diesen Standpunkt unhaltbar. Denn nach Art 78 ist, soweit nicht der zweite Absatz hinsichtlich der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeschluß seine Kompetenz schran- kenlos auszudehnen, so weit nur der Bereich seiner physischen Macht und seines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu erforderliche Majorität eine verstärkte ist, wirkt politisch als eine starke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht Einstimmigkeit der Bundesstaaten erfordert ist. Daß der einzelne Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfassungsmäßig verpflichtet ist, die Einwirkung des Reiches auf solche Hoheitsrechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demselben nicht zu- gewiesen worden sind, selbst wenn er dieser Ausdehnung seinen Widerspruch entgegensetzt, das macht ihn zum Object eines höheren Willens. Der Einfluß, den der Einzelstaat auf das Zustande- kommen und die Durchführung dieses höheren Willens hat, kann politisch nicht nur ein Ersatz für die verlorene Unabhängigkeit, sondern ein hoher Gewinn sein; für die logisch juristische Betrach- tung ist entscheidend, daß der Einzelstaat in der Minorität bleiben kann, daß sein Wille nicht der höchste, letzte, endgültige ist.
Nicht nur materiell ist eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches von dem Erforderniß der Einstimmigkeit frei, auch formell erfolgt dieselbe nicht durch einen Vertrag, sondern durch ein Gesetz, nicht in der Gestalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der Einzelstaaten, sondern in der Gestalt einer sie bindenden Rechts- norm, der Bethätigung eines über ihnen stehenden Herrschafts-
§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Beſchränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz — in ſeinen wichtigſten wirthſchaftlichen und politiſchen Lebensfunktionen führen kann. Bei einer ſo ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma- joritätsbeſchlüſſe anerkennen, heißt nicht, ſich mit Gleichberechtigten zur gemeinſamen Durchführung beſtimmter Zwecke und Willensent- ſchlüſſe vergeſellſchaften, ſondern ſich dem Willen der Geſammtheit als einem höheren Willen unterwerfen.
Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die Kompetenz überhaupt begrenzt iſt, nicht auf die Art, wie ſie be- grenzt iſt, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An- gelegenheiten noch als einzelne und beſtimmte Hoheitsrechte gelten laſſen, ſo macht doch Art. 78 auch dieſen Standpunkt unhaltbar. Denn nach Art 78 iſt, ſoweit nicht der zweite Abſatz hinſichtlich der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeſchluß ſeine Kompetenz ſchran- kenlos auszudehnen, ſo weit nur der Bereich ſeiner phyſiſchen Macht und ſeines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu erforderliche Majorität eine verſtärkte iſt, wirkt politiſch als eine ſtarke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht Einſtimmigkeit der Bundesſtaaten erfordert iſt. Daß der einzelne Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfaſſungsmäßig verpflichtet iſt, die Einwirkung des Reiches auf ſolche Hoheitsrechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demſelben nicht zu- gewieſen worden ſind, ſelbſt wenn er dieſer Ausdehnung ſeinen Widerſpruch entgegenſetzt, das macht ihn zum Object eines höheren Willens. Der Einfluß, den der Einzelſtaat auf das Zuſtande- kommen und die Durchführung dieſes höheren Willens hat, kann politiſch nicht nur ein Erſatz für die verlorene Unabhängigkeit, ſondern ein hoher Gewinn ſein; für die logiſch juriſtiſche Betrach- tung iſt entſcheidend, daß der Einzelſtaat in der Minorität bleiben kann, daß ſein Wille nicht der höchſte, letzte, endgültige iſt.
Nicht nur materiell iſt eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches von dem Erforderniß der Einſtimmigkeit frei, auch formell erfolgt dieſelbe nicht durch einen Vertrag, ſondern durch ein Geſetz, nicht in der Geſtalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der Einzelſtaaten, ſondern in der Geſtalt einer ſie bindenden Rechts- norm, der Bethätigung eines über ihnen ſtehenden Herrſchafts-
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§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Beſchränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz — in ſeinen
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kann. Bei einer ſo ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma-
joritätsbeſchlüſſe anerkennen, heißt nicht, ſich mit Gleichberechtigten
zur gemeinſamen Durchführung beſtimmter Zwecke und Willensent-
ſchlüſſe vergeſellſchaften, ſondern ſich dem Willen der Geſammtheit
als einem höheren Willen unterwerfen.
Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die
Kompetenz überhaupt begrenzt iſt, nicht auf die Art, wie ſie be-
grenzt iſt, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An-
gelegenheiten noch als einzelne und beſtimmte Hoheitsrechte gelten
laſſen, ſo macht doch Art. 78 auch dieſen Standpunkt unhaltbar.
Denn nach Art 78 iſt, ſoweit nicht der zweite Abſatz hinſichtlich
der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung
des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche
Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeſchluß ſeine Kompetenz ſchran-
kenlos auszudehnen, ſo weit nur der Bereich ſeiner phyſiſchen
Macht und ſeines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu
erforderliche Majorität eine verſtärkte iſt, wirkt politiſch als eine
ſtarke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht
Einſtimmigkeit der Bundesſtaaten erfordert iſt. Daß der einzelne
Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfaſſungsmäßig
verpflichtet iſt, die Einwirkung des Reiches auf ſolche Hoheitsrechte
zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demſelben nicht zu-
gewieſen worden ſind, ſelbſt wenn er dieſer Ausdehnung ſeinen
Widerſpruch entgegenſetzt, das macht ihn zum Object eines höheren
Willens. Der Einfluß, den der Einzelſtaat auf das Zuſtande-
kommen und die Durchführung dieſes höheren Willens hat, kann
politiſch nicht nur ein Erſatz für die verlorene Unabhängigkeit,
ſondern ein hoher Gewinn ſein; für die logiſch juriſtiſche Betrach-
tung iſt entſcheidend, daß der Einzelſtaat in der Minorität bleiben
kann, daß ſein Wille nicht der höchſte, letzte, endgültige iſt.
Nicht nur materiell iſt eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches
von dem Erforderniß der Einſtimmigkeit frei, auch formell erfolgt
dieſelbe nicht durch einen Vertrag, ſondern durch ein Geſetz, nicht
in der Geſtalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der
Einzelſtaaten, ſondern in der Geſtalt einer ſie bindenden Rechts-
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/89>, abgerufen am 22.11.2024.
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