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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 54. Bundesglied und Reichsland.
einigt. Dessen ungeachtet ist die Verfassung des deutschen Reiches
mit wenigen, durch die thatsächliche Erweiterung des Reiches noth-
wendig gewesenen Ergänzungen durch das Reichsges. v. 25. Juni
1873 in Elsaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt
worden und es ist dadurch ein Rechtszustand geschaffen worden,
welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet.

Mit Leichtigkeit würden dieselben zwar beseitigt werden, wenn
man zu der Fiction seine Zuflucht nehmen könnte, daß Elsaß-
Lothringen ein Staat geworden sei, wie die anderen deutschen
Gliedstaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte diese Lösung
wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs-
land thatsächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird
wie die Gliedstaaten, so kann in der Praxis der tiefe Gegensatz,
welcher zwischen Gliedstaat und Reichsland besteht, sehr leicht über-
sehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie
steht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein so hoher Preis
in der durch sie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien
des Verfassungsrechts für das gesammte Reichsgebiet, daß es ver-
lockend ist, sich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier
so wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un-
gleichheiten wegschaffen, sie kann Praxis und Theorie nicht auf-
klären, sondern nur verwirren, und sie ist in keinem Falle eine
Lösung, sondern höchstens eine Umgehung der Schwierigkeiten.

Elsaß-Lothringen ist weder dem Reiche noch dem Auslande
gegenüber ein selbstständig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten,
von staatlichen Befugnissen und Pflichten, folglich kein Staat,
sondern es ist ein Bestandtheil, ein Verwaltungsdistrikt des Reiches.
Man braucht sich nur vorzustellen, daß sämmtliche deutsche Staa-
ten zu Reichsländern erklärt und in dieselbe rechtliche Stellung
gebracht würden, in welcher sich Elsaß-Lothringen befindet, um
sofort einzusehen, daß dadurch die Verfassung des Reiches völlig
verändert wäre und daß kein Abschnitt derselben in seinem wahren
und ursprünglichen Sinne anwendbar bliebe.

Der Gegensatz zwischen dem Reichslande und

nicht vollkommen klar war, ist vielfach offen bekannt worden, am unumwun-
densten von dem Berichterstatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai
1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Sess. S. 833.)

§. 54. Bundesglied und Reichsland.
einigt. Deſſen ungeachtet iſt die Verfaſſung des deutſchen Reiches
mit wenigen, durch die thatſächliche Erweiterung des Reiches noth-
wendig geweſenen Ergänzungen durch das Reichsgeſ. v. 25. Juni
1873 in Elſaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt
worden und es iſt dadurch ein Rechtszuſtand geſchaffen worden,
welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet.

Mit Leichtigkeit würden dieſelben zwar beſeitigt werden, wenn
man zu der Fiction ſeine Zuflucht nehmen könnte, daß Elſaß-
Lothringen ein Staat geworden ſei, wie die anderen deutſchen
Gliedſtaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieſe Löſung
wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs-
land thatſächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird
wie die Gliedſtaaten, ſo kann in der Praxis der tiefe Gegenſatz,
welcher zwiſchen Gliedſtaat und Reichsland beſteht, ſehr leicht über-
ſehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie
ſteht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein ſo hoher Preis
in der durch ſie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien
des Verfaſſungsrechts für das geſammte Reichsgebiet, daß es ver-
lockend iſt, ſich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier
ſo wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un-
gleichheiten wegſchaffen, ſie kann Praxis und Theorie nicht auf-
klären, ſondern nur verwirren, und ſie iſt in keinem Falle eine
Löſung, ſondern höchſtens eine Umgehung der Schwierigkeiten.

Elſaß-Lothringen iſt weder dem Reiche noch dem Auslande
gegenüber ein ſelbſtſtändig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten,
von ſtaatlichen Befugniſſen und Pflichten, folglich kein Staat,
ſondern es iſt ein Beſtandtheil, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches.
Man braucht ſich nur vorzuſtellen, daß ſämmtliche deutſche Staa-
ten zu Reichsländern erklärt und in dieſelbe rechtliche Stellung
gebracht würden, in welcher ſich Elſaß-Lothringen befindet, um
ſofort einzuſehen, daß dadurch die Verfaſſung des Reiches völlig
verändert wäre und daß kein Abſchnitt derſelben in ſeinem wahren
und urſprünglichen Sinne anwendbar bliebe.

Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und

nicht vollkommen klar war, iſt vielfach offen bekannt worden, am unumwun-
denſten von dem Berichterſtatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai
1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Seſſ. S. 833.)
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[580/0600] §. 54. Bundesglied und Reichsland. einigt. Deſſen ungeachtet iſt die Verfaſſung des deutſchen Reiches mit wenigen, durch die thatſächliche Erweiterung des Reiches noth- wendig geweſenen Ergänzungen durch das Reichsgeſ. v. 25. Juni 1873 in Elſaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt worden und es iſt dadurch ein Rechtszuſtand geſchaffen worden, welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet. Mit Leichtigkeit würden dieſelben zwar beſeitigt werden, wenn man zu der Fiction ſeine Zuflucht nehmen könnte, daß Elſaß- Lothringen ein Staat geworden ſei, wie die anderen deutſchen Gliedſtaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieſe Löſung wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs- land thatſächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird wie die Gliedſtaaten, ſo kann in der Praxis der tiefe Gegenſatz, welcher zwiſchen Gliedſtaat und Reichsland beſteht, ſehr leicht über- ſehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie ſteht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein ſo hoher Preis in der durch ſie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien des Verfaſſungsrechts für das geſammte Reichsgebiet, daß es ver- lockend iſt, ſich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier ſo wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un- gleichheiten wegſchaffen, ſie kann Praxis und Theorie nicht auf- klären, ſondern nur verwirren, und ſie iſt in keinem Falle eine Löſung, ſondern höchſtens eine Umgehung der Schwierigkeiten. Elſaß-Lothringen iſt weder dem Reiche noch dem Auslande gegenüber ein ſelbſtſtändig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten, von ſtaatlichen Befugniſſen und Pflichten, folglich kein Staat, ſondern es iſt ein Beſtandtheil, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches. Man braucht ſich nur vorzuſtellen, daß ſämmtliche deutſche Staa- ten zu Reichsländern erklärt und in dieſelbe rechtliche Stellung gebracht würden, in welcher ſich Elſaß-Lothringen befindet, um ſofort einzuſehen, daß dadurch die Verfaſſung des Reiches völlig verändert wäre und daß kein Abſchnitt derſelben in ſeinem wahren und urſprünglichen Sinne anwendbar bliebe. Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und 3) 3) nicht vollkommen klar war, iſt vielfach offen bekannt worden, am unumwun- denſten von dem Berichterſtatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai 1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Seſſ. S. 833.)

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/600>, abgerufen am 22.11.2024.