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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages.
ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutschen
Reichsgebiete seinen Wohnsitz hat.

Nur in einer Beziehung erweist sich der bundesstaatliche
Charakter des Reiches auch hinsichtlich des Reichstages als wirk-
sam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreise. Das
Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des gesammten Volkes
ist, würde bei consequenter Durchführung die Wirkung äußern,
daß die Wahlkreise ohne Rücksicht auf die Gränzen der Einzel-
staaten ausschließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen
Verhältnissen abgegränzt würden. Diese Consequenz ist jedoch nicht
gezogen worden. Nach dem Wahlgesetz v. 31. Mai 1869 §. 5
werden die Abgeordneten gewählt "in jedem Bundesstaate." Kein
Wahlkreis umfaßt Gebiete verschiedener Staaten. In einem Bun-
desstaate, dessen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird
trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundsatz, daß jeder
Wahlkreis einen räumlich zusammenhängenden, möglichst abgerunde-
ten Bezirk bilden solle, erleidet eine Ausnahme hinsichtlich der
Enclaven. In dem Wahlgesetz, dem dazu erlassenen Reglement
v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B.-G.-Bl. S. 289) und dem Art.
20 der R.-V. wird ein Katalog aufgestellt, wie viele Abgeordnete
auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh-
rend in subjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler
für die Wahlberechtigung juristisch unerheblich ist, in räumlicher
Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und
da thatsächlich die überwiegende Masse der Bevölkerung eines Ge-
bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, so ist in Rücksicht
auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des "gesammten"
Deutschen Volkes in Bevölkerungen der Einzelstaaten keineswegs
ganz wirkungslos.

II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29
derselbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern
des Bundesrathes, sie sind "Vertreter." Während aber die Bun-
desrathsmitglieder grade darum, weil sie Vertreter der Bundes-
glieder sind, an ihre Aufträge und Instruktionen sich halten müssen,
sind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des "gesammten
Volkes" an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Die
praktische Tendenz dieser Bestimmung ist zwar nur die, den Ge-
danken auszuschließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete

§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutſchen
Reichsgebiete ſeinen Wohnſitz hat.

Nur in einer Beziehung erweiſt ſich der bundesſtaatliche
Charakter des Reiches auch hinſichtlich des Reichstages als wirk-
ſam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreiſe. Das
Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des geſammten Volkes
iſt, würde bei conſequenter Durchführung die Wirkung äußern,
daß die Wahlkreiſe ohne Rückſicht auf die Gränzen der Einzel-
ſtaaten ausſchließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen
Verhältniſſen abgegränzt würden. Dieſe Conſequenz iſt jedoch nicht
gezogen worden. Nach dem Wahlgeſetz v. 31. Mai 1869 §. 5
werden die Abgeordneten gewählt „in jedem Bundesſtaate.“ Kein
Wahlkreis umfaßt Gebiete verſchiedener Staaten. In einem Bun-
desſtaate, deſſen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird
trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundſatz, daß jeder
Wahlkreis einen räumlich zuſammenhängenden, möglichſt abgerunde-
ten Bezirk bilden ſolle, erleidet eine Ausnahme hinſichtlich der
Enclaven. In dem Wahlgeſetz, dem dazu erlaſſenen Reglement
v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B.-G.-Bl. S. 289) und dem Art.
20 der R.-V. wird ein Katalog aufgeſtellt, wie viele Abgeordnete
auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh-
rend in ſubjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler
für die Wahlberechtigung juriſtiſch unerheblich iſt, in räumlicher
Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und
da thatſächlich die überwiegende Maſſe der Bevölkerung eines Ge-
bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, ſo iſt in Rückſicht
auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des „geſammten“
Deutſchen Volkes in Bevölkerungen der Einzelſtaaten keineswegs
ganz wirkungslos.

II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29
derſelbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern
des Bundesrathes, ſie ſind „Vertreter.“ Während aber die Bun-
desrathsmitglieder grade darum, weil ſie Vertreter der Bundes-
glieder ſind, an ihre Aufträge und Inſtruktionen ſich halten müſſen,
ſind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des „geſammten
Volkes“ an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden. Die
praktiſche Tendenz dieſer Beſtimmung iſt zwar nur die, den Ge-
danken auszuſchließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete

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[502/0522] §. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages. ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutſchen Reichsgebiete ſeinen Wohnſitz hat. Nur in einer Beziehung erweiſt ſich der bundesſtaatliche Charakter des Reiches auch hinſichtlich des Reichstages als wirk- ſam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreiſe. Das Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des geſammten Volkes iſt, würde bei conſequenter Durchführung die Wirkung äußern, daß die Wahlkreiſe ohne Rückſicht auf die Gränzen der Einzel- ſtaaten ausſchließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen Verhältniſſen abgegränzt würden. Dieſe Conſequenz iſt jedoch nicht gezogen worden. Nach dem Wahlgeſetz v. 31. Mai 1869 §. 5 werden die Abgeordneten gewählt „in jedem Bundesſtaate.“ Kein Wahlkreis umfaßt Gebiete verſchiedener Staaten. In einem Bun- desſtaate, deſſen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundſatz, daß jeder Wahlkreis einen räumlich zuſammenhängenden, möglichſt abgerunde- ten Bezirk bilden ſolle, erleidet eine Ausnahme hinſichtlich der Enclaven. In dem Wahlgeſetz, dem dazu erlaſſenen Reglement v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B.-G.-Bl. S. 289) und dem Art. 20 der R.-V. wird ein Katalog aufgeſtellt, wie viele Abgeordnete auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh- rend in ſubjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler für die Wahlberechtigung juriſtiſch unerheblich iſt, in räumlicher Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und da thatſächlich die überwiegende Maſſe der Bevölkerung eines Ge- bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, ſo iſt in Rückſicht auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des „geſammten“ Deutſchen Volkes in Bevölkerungen der Einzelſtaaten keineswegs ganz wirkungslos. II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29 derſelbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern des Bundesrathes, ſie ſind „Vertreter.“ Während aber die Bun- desrathsmitglieder grade darum, weil ſie Vertreter der Bundes- glieder ſind, an ihre Aufträge und Inſtruktionen ſich halten müſſen, ſind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des „geſammten Volkes“ an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden. Die praktiſche Tendenz dieſer Beſtimmung iſt zwar nur die, den Ge- danken auszuſchließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/522>, abgerufen am 22.11.2024.