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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages.
sind 1). Da die logische Inconsequenz auch praktische Uebelstände
mit sich brachte, so wurde bereits durch das Reichsgesetz vom 24.
Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45.) diese, den 2. Absatz des Art. 28
bildende, Verfassungsbestimmung wieder beseitigt 2).

In dem Reichstage hat somit die dem Deutschen Reiche an-
gehörende Bevölkerung als Gesammtheit eine einheitliche Vertre-
tung gefunden. Mitgliedschaftsrechte der einzelnen Bun-
desglieder kommen in keiner Beziehung mittelst des Reichstages
zur Ausübung, sondern der Reichstag ist ausschließlich ein Organ
des Reiches als einer über den Einzelstaaten stehenden staatlichen
Ordnung. Demgemäß ist es auch keineswegs inconsequent, daß
Elsaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage
vertreten ist. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten sein,
weil es nicht Mitglied des Bundes ist; zum Reichstage muß es
Abgeordnete zu wählen berechtigt sein, weil die Bevölkerung von
Elsaß-Lothringen staatsrechtlich ein Theil des Deutschen Volkes ist.

Dem Wesen des Reichstages als einer Vertretung des gesamm-
ten Deutschen Volkes entsprechend ist die Bestimmung des Wahl-
gesetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B.-G.-Bl. S. 145):
"Wähler für den Deutschen Reichstag ist jeder Deutsche
-- -- -- -- in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz
hat."

Wären die in Preußen, Sachsen, Bayern gewählten Reichs-
tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieser Staaten, so
könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen
Antheil nehmen 3); ist der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver-
treter des gesammten Deutschen Volkes, so genügt die Reichs-An-
gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann dasselbe

1) Dies wurde sehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover-
beck
und dem Abg. Hirsch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Sess. Stenogr.
Ber. S. 123. 124.
2) Seydel Kommentar S. 139--142 verwerthete Art. 28 Abs. 2 zur Be-
gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des
Staates sind, in dem sie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine "poli-
tische Phrase" erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abs. 2
ist dieser Deduction der Boden entzogen worden.
3) Seydel S. 142 setzt sich über die Bestimmung des §. 1 mit der
Bemerkung hinweg, daß sie "eine aus praktischen Gründen sehr wohl zu
rechtfertigende Anomalie enthält."

§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ſind 1). Da die logiſche Inconſequenz auch praktiſche Uebelſtände
mit ſich brachte, ſo wurde bereits durch das Reichsgeſetz vom 24.
Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45.) dieſe, den 2. Abſatz des Art. 28
bildende, Verfaſſungsbeſtimmung wieder beſeitigt 2).

In dem Reichstage hat ſomit die dem Deutſchen Reiche an-
gehörende Bevölkerung als Geſammtheit eine einheitliche Vertre-
tung gefunden. Mitgliedſchaftsrechte der einzelnen Bun-
desglieder kommen in keiner Beziehung mittelſt des Reichstages
zur Ausübung, ſondern der Reichstag iſt ausſchließlich ein Organ
des Reiches als einer über den Einzelſtaaten ſtehenden ſtaatlichen
Ordnung. Demgemäß iſt es auch keineswegs inconſequent, daß
Elſaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage
vertreten iſt. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten ſein,
weil es nicht Mitglied des Bundes iſt; zum Reichstage muß es
Abgeordnete zu wählen berechtigt ſein, weil die Bevölkerung von
Elſaß-Lothringen ſtaatsrechtlich ein Theil des Deutſchen Volkes iſt.

Dem Weſen des Reichstages als einer Vertretung des geſamm-
ten Deutſchen Volkes entſprechend iſt die Beſtimmung des Wahl-
geſetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B.-G.-Bl. S. 145):
„Wähler für den Deutſchen Reichstag iſt jeder Deutſche
— — — — in dem Bundesſtaate, wo er ſeinen Wohnſitz
hat.“

Wären die in Preußen, Sachſen, Bayern gewählten Reichs-
tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieſer Staaten, ſo
könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen
Antheil nehmen 3); iſt der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver-
treter des geſammten Deutſchen Volkes, ſo genügt die Reichs-An-
gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann daſſelbe

1) Dies wurde ſehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover-
beck
und dem Abg. Hirſch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Seſſ. Stenogr.
Ber. S. 123. 124.
2) Seydel Kommentar S. 139—142 verwerthete Art. 28 Abſ. 2 zur Be-
gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des
Staates ſind, in dem ſie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine „poli-
tiſche Phraſe“ erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abſ. 2
iſt dieſer Deduction der Boden entzogen worden.
3) Seydel S. 142 ſetzt ſich über die Beſtimmung des §. 1 mit der
Bemerkung hinweg, daß ſie „eine aus praktiſchen Gründen ſehr wohl zu
rechtfertigende Anomalie enthält.“
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[501/0521] §. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages. ſind 1). Da die logiſche Inconſequenz auch praktiſche Uebelſtände mit ſich brachte, ſo wurde bereits durch das Reichsgeſetz vom 24. Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45.) dieſe, den 2. Abſatz des Art. 28 bildende, Verfaſſungsbeſtimmung wieder beſeitigt 2). In dem Reichstage hat ſomit die dem Deutſchen Reiche an- gehörende Bevölkerung als Geſammtheit eine einheitliche Vertre- tung gefunden. Mitgliedſchaftsrechte der einzelnen Bun- desglieder kommen in keiner Beziehung mittelſt des Reichstages zur Ausübung, ſondern der Reichstag iſt ausſchließlich ein Organ des Reiches als einer über den Einzelſtaaten ſtehenden ſtaatlichen Ordnung. Demgemäß iſt es auch keineswegs inconſequent, daß Elſaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage vertreten iſt. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten ſein, weil es nicht Mitglied des Bundes iſt; zum Reichstage muß es Abgeordnete zu wählen berechtigt ſein, weil die Bevölkerung von Elſaß-Lothringen ſtaatsrechtlich ein Theil des Deutſchen Volkes iſt. Dem Weſen des Reichstages als einer Vertretung des geſamm- ten Deutſchen Volkes entſprechend iſt die Beſtimmung des Wahl- geſetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B.-G.-Bl. S. 145): „Wähler für den Deutſchen Reichstag iſt jeder Deutſche — — — — in dem Bundesſtaate, wo er ſeinen Wohnſitz hat.“ Wären die in Preußen, Sachſen, Bayern gewählten Reichs- tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieſer Staaten, ſo könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen Antheil nehmen 3); iſt der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver- treter des geſammten Deutſchen Volkes, ſo genügt die Reichs-An- gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann daſſelbe 1) Dies wurde ſehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover- beck und dem Abg. Hirſch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Seſſ. Stenogr. Ber. S. 123. 124. 2) Seydel Kommentar S. 139—142 verwerthete Art. 28 Abſ. 2 zur Be- gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des Staates ſind, in dem ſie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine „poli- tiſche Phraſe“ erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abſ. 2 iſt dieſer Deduction der Boden entzogen worden. 3) Seydel S. 142 ſetzt ſich über die Beſtimmung des §. 1 mit der Bemerkung hinweg, daß ſie „eine aus praktiſchen Gründen ſehr wohl zu rechtfertigende Anomalie enthält.“

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/521>, abgerufen am 22.11.2024.