Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 21. Gebiets-Veränderungen.
es seine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden
Einzelstaaten zu schützen, nicht ferner erfüllen kann, oder daß es
dieser Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch
größerer Verluste oder aus anderen politischen Erwägungen nicht
weiter als geschehen, nachkommen will 1). Die höhere Gewalt,
welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen
Organismus des Reiches selbst stammt, sondern von Außen an
dasselbe herantritt, ist der Grund, wegen dessen der Staat, dessen
Gebiet ganz oder theilweise abgetreten wird, diesen casus tragen
muß. Es bedarf keiner Ausführung der politischen Nachtheile, ja
der Absurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das
Reich in keinem Friedensschlusse Gebietstheile eines Bundesstaates
ohne dessen Zustimmung abtreten könne 2); es würde dies jedem
Einzelstaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den
Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die
Reichsverfassung selbst schließt aber eine solche Annahme auch
dadurch aus, daß sie im Art. 11 Abs. 1 dem Kaiser die Be-
fugniß ertheilt, "Frieden zu schließen," ohne dieser Befug-
niß irgend eine Einschränkung hinzuzufügen, als daß nach Abs. 3
in gewissen Fällen die Zustimmung des Bundesrathes und die
Genehmigung des Reichstages erforderlich ist. Der Schutz der
Einzelstaaten liegt in diesem Falle nicht in einem formalen Rechts-
satz, sondern in der thatsächlichen Solidarität der Interessen, da
jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein-
zelstaat, zu dem es gehört, sondern ebenso schwer auch das Reich
als Ganzes trifft.

2. Die zweite Frage, ob es einem Deutschen Staate verwehrt
ist, außerdeutsches Gebiet ohne Zustimmung des Reiches zu erwer-
ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, ist ohne
praktische Bedeutung. Da die Reichsverfassung an keiner Stelle dies
untersagt und die Deduction, daß aus dem Wesen des Bundes-
staates die Unzulässigkeit eines solchen Erwerbes sich ergäbe, durch
die Hinweisung auf die Stellung des Großherzogthums Hessen im
Norddeutschen Bunde ihre Widerlegung findet, so ist diese Frage
zu verneinen 3). Zuzugeben ist aber, daß sowohl nach dem Art. 1

1) Vgl. Hartmann Institut. des Völkerrechts S. 170.
2) Dies behauptet Seydel S. 29.
3) Vgl. Hiersemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.

§. 21. Gebiets-Veränderungen.
es ſeine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden
Einzelſtaaten zu ſchützen, nicht ferner erfüllen kann, oder daß es
dieſer Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch
größerer Verluſte oder aus anderen politiſchen Erwägungen nicht
weiter als geſchehen, nachkommen will 1). Die höhere Gewalt,
welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen
Organismus des Reiches ſelbſt ſtammt, ſondern von Außen an
daſſelbe herantritt, iſt der Grund, wegen deſſen der Staat, deſſen
Gebiet ganz oder theilweiſe abgetreten wird, dieſen casus tragen
muß. Es bedarf keiner Ausführung der politiſchen Nachtheile, ja
der Abſurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das
Reich in keinem Friedensſchluſſe Gebietstheile eines Bundesſtaates
ohne deſſen Zuſtimmung abtreten könne 2); es würde dies jedem
Einzelſtaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den
Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die
Reichsverfaſſung ſelbſt ſchließt aber eine ſolche Annahme auch
dadurch aus, daß ſie im Art. 11 Abſ. 1 dem Kaiſer die Be-
fugniß ertheilt, „Frieden zu ſchließen,“ ohne dieſer Befug-
niß irgend eine Einſchränkung hinzuzufügen, als daß nach Abſ. 3
in gewiſſen Fällen die Zuſtimmung des Bundesrathes und die
Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. Der Schutz der
Einzelſtaaten liegt in dieſem Falle nicht in einem formalen Rechts-
ſatz, ſondern in der thatſächlichen Solidarität der Intereſſen, da
jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein-
zelſtaat, zu dem es gehört, ſondern ebenſo ſchwer auch das Reich
als Ganzes trifft.

2. Die zweite Frage, ob es einem Deutſchen Staate verwehrt
iſt, außerdeutſches Gebiet ohne Zuſtimmung des Reiches zu erwer-
ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, iſt ohne
praktiſche Bedeutung. Da die Reichsverfaſſung an keiner Stelle dies
unterſagt und die Deduction, daß aus dem Weſen des Bundes-
ſtaates die Unzuläſſigkeit eines ſolchen Erwerbes ſich ergäbe, durch
die Hinweiſung auf die Stellung des Großherzogthums Heſſen im
Norddeutſchen Bunde ihre Widerlegung findet, ſo iſt dieſe Frage
zu verneinen 3). Zuzugeben iſt aber, daß ſowohl nach dem Art. 1

1) Vgl. Hartmann Inſtitut. des Völkerrechts S. 170.
2) Dies behauptet Seydel S. 29.
3) Vgl. Hierſemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0209" n="18[189]"/><fw place="top" type="header">§. 21. Gebiets-Veränderungen.</fw><lb/>
es &#x017F;eine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden<lb/>
Einzel&#x017F;taaten zu &#x017F;chützen, nicht ferner erfüllen <hi rendition="#g">kann</hi>, oder daß es<lb/>
die&#x017F;er Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch<lb/>
größerer Verlu&#x017F;te oder aus anderen politi&#x017F;chen Erwägungen nicht<lb/>
weiter als ge&#x017F;chehen, nachkommen <hi rendition="#g">will</hi> <note place="foot" n="1)">Vgl. <hi rendition="#g">Hartmann</hi> In&#x017F;titut. des Völkerrechts S. 170.</note>. Die höhere Gewalt,<lb/>
welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen<lb/>
Organismus des Reiches &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;tammt, &#x017F;ondern von Außen an<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe herantritt, i&#x017F;t der Grund, wegen de&#x017F;&#x017F;en der Staat, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Gebiet ganz oder theilwei&#x017F;e abgetreten wird, die&#x017F;en <hi rendition="#aq">casus</hi> tragen<lb/>
muß. Es bedarf keiner Ausführung der politi&#x017F;chen Nachtheile, ja<lb/>
der Ab&#x017F;urditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das<lb/>
Reich in keinem Friedens&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e Gebietstheile eines Bundes&#x017F;taates<lb/>
ohne de&#x017F;&#x017F;en Zu&#x017F;timmung abtreten könne <note place="foot" n="2)">Dies behauptet <hi rendition="#g">Seydel</hi> S. 29.</note>; es würde dies jedem<lb/>
Einzel&#x017F;taat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den<lb/>
Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die<lb/>
Reichsverfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chließt aber eine &#x017F;olche Annahme auch<lb/>
dadurch aus, daß &#x017F;ie im Art. 11 Ab&#x017F;. 1 dem <hi rendition="#g">Kai&#x017F;er</hi> die Be-<lb/>
fugniß ertheilt, <hi rendition="#g">&#x201E;Frieden zu &#x017F;chließen,&#x201C;</hi> ohne die&#x017F;er Befug-<lb/>
niß irgend eine Ein&#x017F;chränkung hinzuzufügen, als daß nach Ab&#x017F;. 3<lb/>
in gewi&#x017F;&#x017F;en Fällen die Zu&#x017F;timmung des Bundesrathes und die<lb/>
Genehmigung des Reichstages erforderlich i&#x017F;t. Der Schutz der<lb/>
Einzel&#x017F;taaten liegt in die&#x017F;em Falle nicht in einem formalen Rechts-<lb/>
&#x017F;atz, &#x017F;ondern in der that&#x017F;ächlichen Solidarität der Intere&#x017F;&#x017F;en, da<lb/>
jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein-<lb/>
zel&#x017F;taat, zu dem es gehört, &#x017F;ondern eben&#x017F;o &#x017F;chwer auch das Reich<lb/>
als Ganzes trifft.</p><lb/>
            <p>2. Die zweite Frage, ob es einem Deut&#x017F;chen Staate verwehrt<lb/>
i&#x017F;t, außerdeut&#x017F;ches Gebiet ohne Zu&#x017F;timmung des Reiches zu erwer-<lb/>
ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, i&#x017F;t ohne<lb/>
prakti&#x017F;che Bedeutung. Da die Reichsverfa&#x017F;&#x017F;ung an keiner Stelle dies<lb/>
unter&#x017F;agt und die Deduction, daß aus dem <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi> des Bundes-<lb/>
&#x017F;taates die Unzulä&#x017F;&#x017F;igkeit eines &#x017F;olchen Erwerbes &#x017F;ich ergäbe, durch<lb/>
die Hinwei&#x017F;ung auf die Stellung des Großherzogthums He&#x017F;&#x017F;en im<lb/>
Norddeut&#x017F;chen Bunde ihre Widerlegung findet, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;e Frage<lb/>
zu verneinen <note xml:id="seg2pn_26_1" next="#seg2pn_26_2" place="foot" n="3)">Vgl. <hi rendition="#g">Hier&#x017F;emenzel</hi> S. 4. <hi rendition="#g">Riedel</hi> S. 80. v. <hi rendition="#g">Rönne</hi> S. 37.</note>. Zuzugeben i&#x017F;t aber, daß &#x017F;owohl nach dem Art. 1<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18[189]/0209] §. 21. Gebiets-Veränderungen. es ſeine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden Einzelſtaaten zu ſchützen, nicht ferner erfüllen kann, oder daß es dieſer Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch größerer Verluſte oder aus anderen politiſchen Erwägungen nicht weiter als geſchehen, nachkommen will 1). Die höhere Gewalt, welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen Organismus des Reiches ſelbſt ſtammt, ſondern von Außen an daſſelbe herantritt, iſt der Grund, wegen deſſen der Staat, deſſen Gebiet ganz oder theilweiſe abgetreten wird, dieſen casus tragen muß. Es bedarf keiner Ausführung der politiſchen Nachtheile, ja der Abſurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das Reich in keinem Friedensſchluſſe Gebietstheile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung abtreten könne 2); es würde dies jedem Einzelſtaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die Reichsverfaſſung ſelbſt ſchließt aber eine ſolche Annahme auch dadurch aus, daß ſie im Art. 11 Abſ. 1 dem Kaiſer die Be- fugniß ertheilt, „Frieden zu ſchließen,“ ohne dieſer Befug- niß irgend eine Einſchränkung hinzuzufügen, als daß nach Abſ. 3 in gewiſſen Fällen die Zuſtimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. Der Schutz der Einzelſtaaten liegt in dieſem Falle nicht in einem formalen Rechts- ſatz, ſondern in der thatſächlichen Solidarität der Intereſſen, da jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein- zelſtaat, zu dem es gehört, ſondern ebenſo ſchwer auch das Reich als Ganzes trifft. 2. Die zweite Frage, ob es einem Deutſchen Staate verwehrt iſt, außerdeutſches Gebiet ohne Zuſtimmung des Reiches zu erwer- ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, iſt ohne praktiſche Bedeutung. Da die Reichsverfaſſung an keiner Stelle dies unterſagt und die Deduction, daß aus dem Weſen des Bundes- ſtaates die Unzuläſſigkeit eines ſolchen Erwerbes ſich ergäbe, durch die Hinweiſung auf die Stellung des Großherzogthums Heſſen im Norddeutſchen Bunde ihre Widerlegung findet, ſo iſt dieſe Frage zu verneinen 3). Zuzugeben iſt aber, daß ſowohl nach dem Art. 1 1) Vgl. Hartmann Inſtitut. des Völkerrechts S. 170. 2) Dies behauptet Seydel S. 29. 3) Vgl. Hierſemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/209
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 18[189]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/209>, abgerufen am 24.11.2024.