in den Formen der Verfassungs-Aenderung (Art. 78 Abs. 1) be- schlossenes Reichsgesetz dazu erforderlich ist. Hieraus ergeben sich zwei unzweifelhafte Rechtssätze; nämlich:
1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des Reiches an einen außerdeutschen Staat abtreten oder aus dem Reichsgebiet loslösen; es ist hierzu ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich.
2. Erwerbungen von außerdeutschem Lande, welche ein Einzelstaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es ist hierzu ebenfalls ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich.
Zweifelhaft kann es dagegen erscheinen, ob das Reich befugt ist, Gebietstheile eines Einzelstaates ohne dessen Zustimmung an außerdeutsche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet auszuschließen, und ob es dem Einzelstaat verwehrt ist, ohne Zu- stimmung des Reiches außerdeutsche Gebietstheile zu erwerben, welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden.
1) Bei der ersten dieser beiden Fragen ist zu unterscheiden zwischen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge- zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen).
a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus dem Reichsgebiet auszuschließen, ohne die Zustimmung dieses Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polnisch redender Bevölkerung ist unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein Recht auf die Mitgliedschaft für seinen Gesammtbestand, in seiner Integrität. Er kann weder ganz noch theilweise aus dem Reich ausgeschlossen 1), er kann nicht in seinem Bestande zerrissen und zer- splittert werden, indem ein Theil seines Gebietes aus der im Reiche vollzogenen staatlichen Einigung herausgerissen wird. Es ergiebt sich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedschafts- rechte der Einzelstaaten entwickelt worden ist.
Ebenso muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets- theile eines Bundesstaates ohne dessen Zustimmung an einen außerdeutschen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße an Land und Leuten auferlegen, wenn dieser Staat nicht freiwillig es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedschaft enthaltene Recht jedes Einzelstaates auf gleichmäßige Behandlung
1) Vgl. auch v. Mohl Reichsstaatsr. S. 11.
§. 21. Gebiets-Veränderungen.
in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung (Art. 78 Abſ. 1) be- ſchloſſenes Reichsgeſetz dazu erforderlich iſt. Hieraus ergeben ſich zwei unzweifelhafte Rechtsſätze; nämlich:
1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des Reiches an einen außerdeutſchen Staat abtreten oder aus dem Reichsgebiet loslöſen; es iſt hierzu ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.
2. Erwerbungen von außerdeutſchem Lande, welche ein Einzelſtaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es iſt hierzu ebenfalls ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.
Zweifelhaft kann es dagegen erſcheinen, ob das Reich befugt iſt, Gebietstheile eines Einzelſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an außerdeutſche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet auszuſchließen, und ob es dem Einzelſtaat verwehrt iſt, ohne Zu- ſtimmung des Reiches außerdeutſche Gebietstheile zu erwerben, welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden.
1) Bei der erſten dieſer beiden Fragen iſt zu unterſcheiden zwiſchen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge- zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen).
a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus dem Reichsgebiet auszuſchließen, ohne die Zuſtimmung dieſes Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polniſch redender Bevölkerung iſt unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein Recht auf die Mitgliedſchaft für ſeinen Geſammtbeſtand, in ſeiner Integrität. Er kann weder ganz noch theilweiſe aus dem Reich ausgeſchloſſen 1), er kann nicht in ſeinem Beſtande zerriſſen und zer- ſplittert werden, indem ein Theil ſeines Gebietes aus der im Reiche vollzogenen ſtaatlichen Einigung herausgeriſſen wird. Es ergiebt ſich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedſchafts- rechte der Einzelſtaaten entwickelt worden iſt.
Ebenſo muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets- theile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an einen außerdeutſchen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße an Land und Leuten auferlegen, wenn dieſer Staat nicht freiwillig es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedſchaft enthaltene Recht jedes Einzelſtaates auf gleichmäßige Behandlung
1) Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 11.
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§. 21. Gebiets-Veränderungen.
in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung (Art. 78 Abſ. 1) be-
ſchloſſenes Reichsgeſetz dazu erforderlich iſt. Hieraus ergeben ſich
zwei unzweifelhafte Rechtsſätze; nämlich:
1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des
Reiches an einen außerdeutſchen Staat abtreten oder aus dem
Reichsgebiet loslöſen; es iſt hierzu ein verfaſſungsänderndes
Reichsgeſetz erforderlich.
2. Erwerbungen von außerdeutſchem Lande, welche ein
Einzelſtaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es
iſt hierzu ebenfalls ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.
Zweifelhaft kann es dagegen erſcheinen, ob das Reich befugt
iſt, Gebietstheile eines Einzelſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an
außerdeutſche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet
auszuſchließen, und ob es dem Einzelſtaat verwehrt iſt, ohne Zu-
ſtimmung des Reiches außerdeutſche Gebietstheile zu erwerben,
welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden.
1) Bei der erſten dieſer beiden Fragen iſt zu unterſcheiden
zwiſchen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge-
zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen).
a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus
dem Reichsgebiet auszuſchließen, ohne die Zuſtimmung dieſes
Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polniſch redender
Bevölkerung iſt unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein
Recht auf die Mitgliedſchaft für ſeinen Geſammtbeſtand, in ſeiner
Integrität. Er kann weder ganz noch theilweiſe aus dem Reich
ausgeſchloſſen 1), er kann nicht in ſeinem Beſtande zerriſſen und zer-
ſplittert werden, indem ein Theil ſeines Gebietes aus der im
Reiche vollzogenen ſtaatlichen Einigung herausgeriſſen wird. Es
ergiebt ſich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedſchafts-
rechte der Einzelſtaaten entwickelt worden iſt.
Ebenſo muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets-
theile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an einen
außerdeutſchen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das
Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße
an Land und Leuten auferlegen, wenn dieſer Staat nicht freiwillig
es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedſchaft
enthaltene Recht jedes Einzelſtaates auf gleichmäßige Behandlung
1) Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 11.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/207>, abgerufen am 23.11.2024.
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