§. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
Wenn man von diesem Begriffe ausgeht, so ergiebt sich daß im Reiche in ähnlicher Weise eine doppelte Gebietshoheit besteht, wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten sind mit Land und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben sie in soweit behalten, als ihnen Herrschaftsrechte geblieben sind; sie ist auf das Reich übergegangen, so weit das Reich die Hoheits- rechte der Einzelstaaten auf sich vereinigt hat 1). Die Kompetenz- Grenze zwischen Reich und Einzelstaat ist zugleich die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten am Staatsgebiet scheidet.
Es sind zwei hiervon, nach verschiedenen Richtungen abwei- chende Ansichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürst Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 1. April 1871 2) hinsichtlich des An- trages anstatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der Verf. zu setzen:
"Bei den Worten "Reichsgebiet" und "Bundesgebiet" gebe ich gern zu, daß der Unterschied sich nicht nothwendig und scharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den sprachlichen Begriff an, den man mit "Reich" und "Gebiet" verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben ist, bei Bezeichnung des Gesammtgebietes der Be- griff des Bundesverhältnisses in den Vordergrund zu stellen sei."
Auf diese Aeußerung berufen sich manche Schriftsteller für die Behauptung, daß das Reich als solches keine Gebietshoheit habe 3).
Andererseits geht die Behauptung, daß "das Bundesgebiet ein wahres einheitliches Staatsgebiet sei, innerhalb dessen von Aus- land und Inland nicht mehr die Rede sein könne" 4), viel zu weit.
Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein wesentliches Moment im Begriff des Staates sei und daß deshalb es kein Recht des Staates an seinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade dieses ausschließliche Herrschaftsrecht am Gebiet ist für den Staatsbegriff we- sentlich.
1) Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesstaatsr. I. §. 58.
2) Stenogr. Ber. S. 95.
3) So besonders Seydel Comment. S. 28 fg.
4) So äußert sich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich "Das
§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
Wenn man von dieſem Begriffe ausgeht, ſo ergiebt ſich daß im Reiche in ähnlicher Weiſe eine doppelte Gebietshoheit beſteht, wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten ſind mit Land und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben ſie in ſoweit behalten, als ihnen Herrſchaftsrechte geblieben ſind; ſie iſt auf das Reich übergegangen, ſo weit das Reich die Hoheits- rechte der Einzelſtaaten auf ſich vereinigt hat 1). Die Kompetenz- Grenze zwiſchen Reich und Einzelſtaat iſt zugleich die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten am Staatsgebiet ſcheidet.
Es ſind zwei hiervon, nach verſchiedenen Richtungen abwei- chende Anſichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürſt Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 1. April 1871 2) hinſichtlich des An- trages anſtatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der Verf. zu ſetzen:
„Bei den Worten „Reichsgebiet“ und „Bundesgebiet“ gebe ich gern zu, daß der Unterſchied ſich nicht nothwendig und ſcharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den ſprachlichen Begriff an, den man mit „Reich“ und „Gebiet“ verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben iſt, bei Bezeichnung des Geſammtgebietes der Be- griff des Bundesverhältniſſes in den Vordergrund zu ſtellen ſei.“
Auf dieſe Aeußerung berufen ſich manche Schriftſteller für die Behauptung, daß das Reich als ſolches keine Gebietshoheit habe 3).
Andererſeits geht die Behauptung, daß „das Bundesgebiet ein wahres einheitliches Staatsgebiet ſei, innerhalb deſſen von Aus- land und Inland nicht mehr die Rede ſein könne“ 4), viel zu weit.
Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein weſentliches Moment im Begriff des Staates ſei und daß deshalb es kein Recht des Staates an ſeinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade dieſes ausſchließliche Herrſchaftsrecht am Gebiet iſt für den Staatsbegriff we- ſentlich.
1) Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. §. 58.
2) Stenogr. Ber. S. 95.
3) So beſonders Seydel Comment. S. 28 fg.
4) So äußert ſich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich „Das
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§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
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im Reiche in ähnlicher Weiſe eine doppelte Gebietshoheit beſteht,
wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten ſind mit Land
und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben
ſie in ſoweit behalten, als ihnen Herrſchaftsrechte geblieben ſind;
ſie iſt auf das Reich übergegangen, ſo weit das Reich die Hoheits-
rechte der Einzelſtaaten auf ſich vereinigt hat 1). Die Kompetenz-
Grenze zwiſchen Reich und Einzelſtaat iſt zugleich
die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches
am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten
am Staatsgebiet ſcheidet.
Es ſind zwei hiervon, nach verſchiedenen Richtungen abwei-
chende Anſichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der
neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürſt Bismarck in der
Sitzung des Reichstages v. 1. April 1871 2) hinſichtlich des An-
trages anſtatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der
Verf. zu ſetzen:
„Bei den Worten „Reichsgebiet“ und „Bundesgebiet“ gebe
ich gern zu, daß der Unterſchied ſich nicht nothwendig und ſcharf
fühlbar macht. Es kommt aber auf den ſprachlichen Begriff an,
den man mit „Reich“ und „Gebiet“ verbindet. Wir haben geglaubt,
daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit,
die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten
verblieben iſt, bei Bezeichnung des Geſammtgebietes der Be-
griff des Bundesverhältniſſes in den Vordergrund zu ſtellen ſei.“
Auf dieſe Aeußerung berufen ſich manche Schriftſteller für die
Behauptung, daß das Reich als ſolches keine Gebietshoheit habe 3).
Andererſeits geht die Behauptung, daß „das Bundesgebiet ein
wahres einheitliches Staatsgebiet ſei, innerhalb deſſen von Aus-
land und Inland nicht mehr die Rede ſein könne“ 4), viel zu weit.
3)
1) Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. §. 58.
2) Stenogr. Ber. S. 95.
3) So beſonders Seydel Comment. S. 28 fg.
4) So äußert ſich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich „Das
3) Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein
weſentliches Moment im Begriff des Staates ſei und daß deshalb es kein
Recht des Staates an ſeinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade
dieſes ausſchließliche Herrſchaftsrecht am Gebiet iſt für den Staatsbegriff we-
ſentlich.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/205>, abgerufen am 24.07.2024.
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