§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung.
Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange- hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln ist.
Dieses Indigenat ist in der Literatur fast durchweg mit dem Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweise in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt 1).
Aus den einzelnen Consequenzen dieses Prinzips hat man reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundstü- cken u. s. w.
Dies ist unrichtig. Ein subjectives, individuelles Recht be- gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn man selbst zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be- schränkungen der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B. die sogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. s. w. als subjective Rechte der Einzelnen logisch gedacht werden können. Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er sagt nicht, jeder Deutsche hat das Recht zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe u. s. w. im ganzen Bundesgebiet; sondern als Consequenzen des durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange- hörige eines jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate "zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Vorausse- tzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes dem- selben gleich zu behandeln ist.
Ueber die Voraussetzungen und Bedingungen der Niederlassung, des Gewerbebetriebes, der Anstellung im Staatsdienst, der Rechts- verfolgung und des Rechtsschutzes u. s. w. enthält der Art. 3 der
1)Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterscheiden zwar im An- schluß an die im Bayerischen Staatsrecht längst übliche Auseinanderhaltung von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs- indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinsicht auf den Inhalt beider.
§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
Für ganz Deutſchland beſteht ein gemeinſames Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange- hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesſtaates in jedem anderen Bundesſtaate als Inländer zu behandeln iſt.
Dieſes Indigenat iſt in der Literatur faſt durchweg mit dem Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweiſe in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt 1).
Aus den einzelnen Conſequenzen dieſes Prinzips hat man reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum Wohnſitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundſtü- cken u. ſ. w.
Dies iſt unrichtig. Ein ſubjectives, individuelles Recht be- gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn man ſelbſt zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be- ſchränkungen der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B. die ſogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. ſ. w. als ſubjective Rechte der Einzelnen logiſch gedacht werden können. Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er ſagt nicht, jeder Deutſche hat das Recht zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe u. ſ. w. im ganzen Bundesgebiet; ſondern als Conſequenzen des durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange- hörige eines jeden Bundesſtaates in jedem andern Bundesſtaate „zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundſtücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genuſſe aller ſonſtigen bürgerlichen Rechte unter denſelben Vorausſe- tzungen wie der Einheimiſche zuzulaſſen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsſchutzes dem- ſelben gleich zu behandeln iſt.
Ueber die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung, des Gewerbebetriebes, der Anſtellung im Staatsdienſt, der Rechts- verfolgung und des Rechtsſchutzes u. ſ. w. enthält der Art. 3 der
1)Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterſcheiden zwar im An- ſchluß an die im Bayeriſchen Staatsrecht längſt übliche Auseinanderhaltung von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs- indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinſicht auf den Inhalt beider.
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§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
Für ganz Deutſchland beſteht ein gemeinſames
Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange-
hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden
Bundesſtaates in jedem anderen Bundesſtaate
als Inländer zu behandeln iſt.
Dieſes Indigenat iſt in der Literatur faſt durchweg mit dem
Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweiſe
in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt 1).
Aus den einzelnen Conſequenzen dieſes Prinzips hat man
reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum
Wohnſitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundſtü-
cken u. ſ. w.
Dies iſt unrichtig. Ein ſubjectives, individuelles Recht be-
gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn
man ſelbſt zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be-
ſchränkungen der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B.
die ſogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. ſ. w.
als ſubjective Rechte der Einzelnen logiſch gedacht werden können.
Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er ſagt nicht, jeder
Deutſche hat das Recht zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe
u. ſ. w. im ganzen Bundesgebiet; ſondern als Conſequenzen des
durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange-
hörige eines jeden Bundesſtaates in jedem andern Bundesſtaate
„zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen
Aemtern, zur Erwerbung von Grundſtücken, zur Erlangung
des Staatsbürgerrechtes und zum Genuſſe aller ſonſtigen
bürgerlichen Rechte unter denſelben Vorausſe-
tzungen wie der Einheimiſche zuzulaſſen, auch in
Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsſchutzes dem-
ſelben gleich zu behandeln iſt.
Ueber die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung,
des Gewerbebetriebes, der Anſtellung im Staatsdienſt, der Rechts-
verfolgung und des Rechtsſchutzes u. ſ. w. enthält der Art. 3 der
1) Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterſcheiden zwar im An-
ſchluß an die im Bayeriſchen Staatsrecht längſt übliche Auseinanderhaltung
von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs-
indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinſicht
auf den Inhalt beider.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/196>, abgerufen am 16.02.2025.
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